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Beim Kentler-Experiment wurden Jugendliche zur Resozialisation zu pädophilen Pflegevätern geschickt.

© Julian Stratenschulte/dpa

Update

„Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung“: Studie arbeitet Missbrauch von Pflegekindern bei „Kentler-Experiment” auf

Jahrzehntelang wurden Jugendliche bewusst an pädophile Pflegeväter vermittelt – in Berlin und offenbar darüber hinaus. Opfer sollen nun entschädigt werden.

Jugendämter, die Pflegekinder in die Obhut vorbestrafter Pädophiler geben - es klingt so perfide wie unglaublich. Doch in Berlin ist genau das über 30 Jahre hinweg passiert, bis mindestens 2003. „Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung”, das „Versagen öffentlicher Kindes- und Jugendhilfe”, ein staatlich geduldetes, gestärktes und legitimiertes Pädophilie-Netzwerk: Deutlicher könnte das Ergebnis der Hildesheimer Forschergruppe kaum sein.

Bei dem „Kentler-Experiment”, wie es verharmlosend genannt wird, handele es sich um ein „Netzwerk von Akteuren”, das geduldet worden sei, sagte Wolfgang Schröer von der Uni Hildesheim. Der Fall wurde erst 2013 durch einen Bericht im „Spiegel” öffentlich.

Der Psychologe und Sozialpädagoge Kentler hatte sich aktiv dafür eingesetzt, pädophilen Männern Jugendliche als Pflegekinder anzuvertrauen, die - etwa weil sie auf der Straße lebten oder von ihren Eltern Gewalt erfahren hatten - als besonders schwierige Fälle galten.

Jetzt, sieben Jahre nach Veröffentlichung des Berichts, hat eine Forschungsgruppe eine Studie dazu vorgelegt, die im Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hildesheim verortet ist.

Studie sieht Berliner Senat als Verantwortlichen

Die Verantwortung für die Verbrechen liege „eindeutig und unstrittig beim Senat als dessen Dienstherr”, heißt es in der Studie. Kentler habe „auf verschiedenen Ebenen - auf der Ebene der Senatsverwaltung wie auf der Ebene der Bezirksämter - agiert, eingegriffen und gesteuert”, betonte auch Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) auf der Pressekonferenz am Montagnachmittag.

Scheeres betonte die überregionale Bedeutung des Falls, die die Forschungen zeigen. „Natürlich muss das Land Berlin Verantwortung übernehmen”, sagte die Senatorin. „Denn die Behörden haben damals versagt. Das muss man einfach so sagen.” Es handele sich um „Kindeswohlgefährdung in staatlicher Verantwortung“. Zudem wolle man sich im Bund dafür einsetzen, dass die „deutlichen Hinweise” auf bundesweite Zusammenhänge untersucht werden.

Opfer sollen entschädigt werden

Zudem kündigte Scheeres erstmals an, dass auch die Opfer entschädigt werden sollen. „Mit dem neuen Wissen bieten wir den Betroffenen Gespräche über eine finanzielle Entschädigung an”, sagte Scheeres. Darauf habe man sich mit der Senatsverwaltung für Finanzen geeinigt. Wie hoch die Entschädigung sein wird, wollte Scheeres auf Nachfrage nicht sagen.

Der Fall ist strafrechtlich verjährt

2016 hatte Scheeres bereits die erste Studie zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in Auftrag gegeben. Allerdings waren die Ergebnisse spärlich, weil der damit beauftragten Wissenschaftlerin offenbar der Zugriff auf wichtige Akten verwehrt worden war.

Strafrechtlich ist der Fall erledigt, da er verjährt und Kentler seit 2008 tot ist. Das hat dazu geführt, dass Betroffene bis heute keine Entschädigungen erhalten haben.

„Alle Worte von SenBJF haben keinerlei Wert, wenn hinter den Kulissen weiterhin mit harten Bandagen der Juristerei gegen die Betroffenen gearbeitet wird”, schreiben zwei der Betroffenen in einer Stellungnahme zur Studie. Sie kritisieren „Lippenbekenntnisse” des Senats.

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Der Hintergrund: Eine Klage eines der Betroffenen auf Prozesskostenbeihilfe war abgewiesen worden. Scheeres und Jugendstaatssekretärin Sigrid Klebba begründeten dies damit, dass die Klage aufgrund der Verjährung als aussichtlos angesehen wird.

„Es ist problematisch, dass es eine Verjährung gibt”, sagte Scheeres. Die Zurückweisung habe einen rein „haushaltsrechtlichen Hintergrund”. Und die Finanzverwaltung teilte auf Anfrage schriftlich mit: „Zu Einzelheiten wird in Hinblick auf das laufende Gerichtsverfahren keine Stellung genommen.” Die Entschädigungen, die man jetzt zahlen wolle, zahle man laut Klebba „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht”.

Zahl der Täter und Opfer bleibt unklar

Weiterhin unklar ist auch, wie viele Täter und Opfer es gibt. Im Rahmen der Studie hätten sich insgesamt drei Betroffene anvertraut, es sei bekannt, dass der Pflegevater Fritz H. mindestens zehn Kinder in seiner Obhut hatte - auch ein mehrfach schwer behindertes Kind, das in seiner Obhut verstarb.

Die Forscher berichten auch, dass die Kinder, die damals in Fritz H.s Obhut waren, „kaum gehört wurden”. Dabei habe es, so Carolin Oppermann, eine „Vielzahl von starken Signalen” auf Kindeswohlgefährdung gegeben. All diese Signale hätten demnach dazu führen müssen, dass der Pflegevater geprüft werde. Das sei jedoch nicht geschehen. Im Gegenteil: Fritz H. wurde sogar vom Jugendamt verteidigt.

Eine „ganze Reihe von Zeitzeugen” bestätigen laut dem Bericht zudem, „dass die Grundkonstruktion ‘Wohngemeinschaften oder Pflegestellen bei pädophilen Männern’ einzurichten“, in der Senatsverwaltung bekannt war und durchaus auch in Bezirksjugendämtern - nicht bei allen - auf Akzeptanz gestoßen ist."

(Hinweis: In der ursprünglichen Fassung dieses Beitrags stand, die Senatsverwaltung für Finanzen habe eine Klage eines der Betroffenen auf Prozesskostenbeihilfe abgewiesen. Tatsächlich hat natürlich das Landgericht Berlin den Fall abgewiesen. Im Namen des Landes Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung für Finanzen, hatte eine bevollmächtigte Anwaltskanzlei beantragt, die Klage abzuweisen.)

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