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Drei junge Mütter schieben ihre Babys im Kinderwagen bei einem gemeinsamen Spaziergang. (Symbolbild)

© Wolfram Steinberg/dpa

Kinderwagenklau in Berlin: Opfer der "Buggy-Mafia" erzählen

1501 Kinderwagen wurden in den vergangenen zwei Jahren in Berlin als gestohlen gemeldet. Zwei Betroffene erzählen von bizarren Erlebnissen.

„Beste Fahreigenschaften“ verspricht der Hersteller, die „hochentwickelte Allradfederung“ biete eine „stabile Fahrt auf jedem Untergrund“, trotzdem sei das Gefährt „ultraleicht und kompakt“. Könnte aus der Werbung für den neuen Elektro-Smart stammen, ist aber PR-Lyrik für den „ultimativen Komfort-Kinderwagen“ der Marke Bugaboo. Kaufpreis: ab 1000 Euro.

Die robusten Kinderwagen der oberen Mittelklasse verkaufen sich gut, doch wer sich einen Bugaboo, Teutonia oder anderen teuren Markenwagen leistet, hat auch ein erhöhtes Risiko, ihn schnell wieder loszuwerden – und ein weiteres Opfer der „Buggy-Mafia“ zu werden. Kinderwagen sind inzwischen begehrtes Objekt für Diebe und Hehler geworden, besonders in Großstädten. Und das ist angesichts der hohen Anschaffungskosten besonders ärgerlich für Familien – die vielleicht an allem sparen, nur eben viel Wert auf einen gut funktionierenden und langlebigen Kinderwagen legen.

„Keine Entspannung in Sachen Kinderwagen-Diebstahl“, meldete das „Hamburger Abendblatt“ im vergangenen November. Im Frühjahr 2018 hatte die Hamburger Polizei einen Fahndungserfolg gemeldet, damals waren zwei Frauen im Alter von 20 und 24 Jahren festgenommen worden. Die ermittelnden Beamten konnten sie überführen, indem sie sich als Interessenten für einen geklauten Kinderwagen ausgaben, der auf Ebay angeboten worden war. Die Frauen hatten systematisch Kinderwagen der Marke Bugaboo ausgespäht und vor Kitas oder in Hausfluren mitgehen lassen.

Und wie ist die Lage in Berlin? Hier soll der systematische Diebstahl von Luxuskinderwagen so um 2007 herum begonnen haben, im Kinderparadies Prenzlauer Berg. Betroffen ist auch Tagesspiegel-Mitarbeiterin Karin Christmann. Sie berichtet vom Verlust ihres Kinderwagens der Marke „Emmaljunga“, preislich fast auf Bugaboo-Niveau. Teuer, aber dafür robust, unverwüstlich und sicher auch noch für möglichen weiteren Familienzuwachs brauchbar, hatten sich die Eltern gedacht, als sich das erste Kind ankündigte.

An einem Vormittag im Sommer ist eine Zugreise zur Oma geplant, Christmann steigt mit Kind und Gepäck die Treppe aus dem ersten Stock im Hinterhaus hinunter, um im Flur alles im Kinderwagen ihres Vertrauens zu verstauen. Doch der ist weg. Das Interessante dabei: Die weniger hochwertigen Kinderwagen der Nachbarn, auch unangeschlossen, haben die Diebe stehen lassen.

Die Zugangstür sei zwar geschlossen gewesen, aber nicht abgeschlossen. Mit einem Schloss durfte der Wagen nicht gesichert werden, der Hausflur war nämlich gleichzeitig eine Hofdurchfahrt: Nachbarn wollten die Möglichkeit haben, die Kinderwagen vorübergehend hinauszuschieben, um ihre Autos einzuparken. Im Vorderhaus befindet sich ein Hotel. Christmann fragt den Juniorchef, ob er was gesehen habe. Hat er nicht, aber vielleicht die Videokameras, die sie wegen zweier nächtlicher Überfälle auf die Mitarbeiter an der Rezeption installiert hatten.

Nach längerer Suche ein Treffer: Zwei Männer, dunkle Mützen ins Gesicht gezogen, schieben einen Kinderwagen am Hoteleingang vorbei, um zwei Uhr morgens. Das müssen die Täter sein. Die Polizei wird alarmiert, nach ein paar Tagen kommt ein Beamter vorbei, sieht sich die Videosequenz an, verspricht, sie einigen Kollegen zu zeigen, damit ist die Ermittlungsarbeit beendet. Dann die Enttäuschung: Eine Veröffentlichung des Videos auf den Onlineseiten der Polizei komme laut den Beamten nicht infrage, schließlich handle es sich um kein schweres Verbrechen.

Auch für Kriminelle gilt Datenschutz, die Bilder aus der Überwachungskamera nutzen den Opfern eines solchen Diebstahls nichts. Christmann sucht ihren Kinderwagen bei Ebay Kleinanzeigen, doch so einfach ist das nicht. Unter dem Markennamen wird sie nicht fündig, andere Suchkriterien bringen auch kein stichhaltiges Ergebnis. Die Polizei stellt das Verfahren ein. Immerhin zahlt die Hausratversicherung, der Tarif war extra so gewählt, dass der Kinderwagen mitversichert ist.

1501 Diebstähle von Kinderwagen meldet die Polizei in den Jahren 2016 bis 2018, darunter fallen aber auch 104 Diebstähle von Autos, in denen sich ein Kinderwagen befand. Ist der Kinderwagen nur ein gestohlenes Objekt unter vielen, kann es sein, dass er von den Geschädigten gar nicht aufgelistet und damit auch nicht erfasst wird. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer, weil viele den Diebstahl nicht anzeigen. Hier sind die Falldaten ähnlich unsicher wie bei den Fahrraddiebstählen.

Nur in 69 Fällen konnte die Polizei einen Tatverdächtigen ermitteln, eigentlich müsste hier 70 stehen, aber den Tatverdächtigen, den Gregor Samimi, Vater und Rechtsanwalt aus Steglitz, lieferte, ließ die Polizei laufen. Aus Mangel an Beweisen.

Samimi erlebte immerhin einen spannenden Tag als Hobbyermittler. Nachdem er festgestellt hatte, dass sein am Treppengeländer angeschlossener Bugaboo Chamäleon entwendet worden war, ging er auf die nächste Polizeiwache, um den Diebstahl zu melden. Alle wichtigen Unterlagen zur Beweisführung, falls der Kinderwagen irgendwo wieder auftaucht, konnte er beibringen: Kaufbeleg und sogar eine Fahrgestellnummer.

Seine Frau recherchiert daraufhin bei Ebay und findet das gute Stück schnell wieder. Eine Kaffeebecher-Halterung, die sie geschenkt bekommen hatten, ist noch an der ursprünglichen Stelle angeklemmt. Der gebrochene Rahmen vom Schirm ist ausgewechselt worden. Nur die Babywanne, die den Samimis auch geklaut wurde, fehlt. 800 Euro möchte der Anbieter haben.

Samimi ruft beim Verkäufer an, gibt sich interessiert und macht einen Termin aus. Zusammen mit einem Freund will er hinfahren. Er sagt auch seiner Polizeiwache Bescheid, aber die Beamten erklären, sie könnten ihm nicht helfen. Die Adresse ist in Spandau, ein Hochhausblock in Staaken. Samimi meldet sich auch dort bei der Polizei an, damit die Beamten vorgewarnt sind, falls die Sache aus dem Ruder läuft.

Eine junge Frau tritt als Verkäuferin auf. Der Rechtsanwalt fragt nach der Fahrgestellnummer, doch die lässt sich nicht finden. Sie habe den Wagen „aus der Verwandtschaft“. Schließlich kommt ihr Lebensgefährte dazu, die aufgeklebte Fahrgestellnummer habe er entfernt, weil ihre Tochter immer dran genestelt hätte. Wenn er einen Wagen mit Kaufbeleg und Gestellnummer haben wolle, könne er sich ja einen neuen kaufen. Inzwischen hat Samimi auch die Handtasche seiner Frau identifiziert, die hatte im Kinderwagen gelegen. Nun hängt sie an der Schulter der Verkäuferin.

Samimi gibt seine Tarnung auf und schlägt vor, zusammen zur Polizei zu gehen. Die junge Frau scheint einverstanden, zusammen verlassen sie das Haus, doch dann ergreift sie die Flucht und ruft laut um Hilfe. Samimi und sein Freund rennen hinterher, ein Mann stellt sich ihnen in den Weg, sie erklären ihm die Lage, dann nehmen sie zu dritt die Verfolgung auf, finden die Frau schließlich in einem Hinterhof. Inzwischen sind auch zwei Streifenwagen angekommen. Die Polizisten erklären Samimi, dass sie den Fall jetzt übernehmen, er möge doch wieder nach Hause fahren.

Also wenn das Auffinden des kompletten, leicht wiedererkennbaren Diebesgutes der Berliner Polizei nicht reicht, die Gegenstände an den rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben, läuft bei denen definitiv was falsch [...].

schreibt NutzerIn happyrocker

Trotz alledem: Samimi erhält seinen Kinderwagen und die Handtasche seiner Frau nicht zurück, das Verfahren wird eingestellt, die Indizienkette reichte der Polizei offenbar nicht aus. Weitere Ermittlungen wären vermutlich zu aufwendig gewesen. „Sehr enttäuschend“, findet Samimi, bei all der Aufregung und dem ganzen Aufwand. Versichert war der Kinderwagen leider nicht. Sein Sohn bekam zur Entschädigung immerhin einen schicken Buggy Maclaren.

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