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Mit dieser Buslinie fuhr Franz Müntefering früher immer nachhause.

© Doris Spiekermann-Klaas

Kiezspaziergang mit Franz Müntefering: „Das ist eine der politischsten Straßen der Stadt“

Ex-Vizekanzler Franz Müntefering ging früher oft zu Fuß ins Büro. Auf einem Spaziergang durch Mitte blickt er zurück auf die wilden Jahre des Regierungsumzugs.

Die Buchhändlerin vom „Vorwärts-Laden“ im Willy-Brandt-Haus wittert ihre Chance, als sie Franz Müntefering auf der anderen Seite des Schaufensters erblickt. „Komm doch rein, Du kannst mir ein paar Exemplare von Deinem Buch signieren.“ Obwohl der Tag kalt ist, trägt Franz Müntefering zum Spaziergang durch Mitte zu seinem Pullover nur ein dickes Jackett.

Vor der Spitze des Willy-Brandt-Hauses, dem Startpunkt der Tour, zeigt er nach oben, Richtung Präsidiumssaal, und erinnert sich an einen skurrilen Moment in seiner Karriere als SPD-Politiker. „Da haben wir gesessen, zehn oder zwölf Leute. Plötzlich entdeckt einer auf dem Gebäude auf der anderen Seite der Straße einen Mann mit Gewehr.“ Großer Schrecken. „Der meint uns!“ Alarm. Polizei. Dann die Entwarnung, dort wurde nur ein Film gedreht.

Weiter geht es die Wilhelmstraße runter, Münteferings alter Arbeitsweg. Zwei Jahre lang, von 2005 bis 2007, war er Vizekanzler und Minister für Arbeit und Soziales, bis 2013 auch Bundestagsabgeordneter. Selbst als er hohe Ämter hatte, ist er die Strecke manchmal zu Fuß gegangen. „Das ist eine der politischsten Straßen der Stadt.“

In der Wilhelmstraße hat er damals auch gewohnt, nur am anderen Ende, fast zwei Kilometer entfernt. „In einer Edelplatte“, sagt er. Dass er in die frühere Wohnung von Gregor Gysi eingezogen war, hat ihm der Linke-Politiker erst später erzählt. „Muss man da vorsichtig sein, wird man abgehört?“, fragte er prompt. Der Gregor Gysi wehrte ab. Diskutiert haben sie später an anderen Orten.

„Man musste doch zeigen, dass die Demokratie gewonnen hat“

Viele Gebäude an der Wegstrecke haben mit der Biographie des prominenten Politikers zu tun. Ausgerechnet in der heißen Phase des Umzugs von Bonn nach Berlin zwischen 1998 und 1999 war er auch Minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Die Diskussionen, ob man die noch erhaltenen alten Nazigebäude stehen lassen soll, seien damals aber bereits abgeschlossen gewesen, erzählt er, als er am Finanzministerium vorbeigeht, in dem zur Nazi-Zeit das Luftfahrtministerium untergebracht war. Franz Müntefering war immer dafür, die Gebäude stehen zu lassen – unter der Voraussetzung natürlich, dass man sie entsprechend kennzeichnete. „Man musste doch zeigen, dass die Demokratie gewonnen hat.“ Allerdings seien die Gebäude, die noch aus der Nazizeit übrig waren, voller Baumängel gewesen. „Da war viel Schrott dabei, für 1000 Jahre haben die nicht gebaut.“

Als er sich der Topographie des Terrors nähert, umwuselt ihn plötzlich eine Schulklasse. „Gut, dass es diese Erinnerungsstätte hier gibt“, sagt er. Die Ausstellung im Innern sei zwar sehr bedrückend, aber es sei wichtig, dass junge Menschen das sehen. Zum 100. Geburtstag hatte der Arbeiter-Samariter-Bund, dessen ehrenamtlicher Präsident Franz Müntefering ist, dort eine Ausstellung zu seiner Geschichte während der Nazi-Zeit gezeigt. Mitglieder seien damals verfolgt worden, wie SPD-Genossen auch. „Aber es gab natürlich auch Mitläufer“.

Ehrenämter sind wichtig, wenn man älter wird, das betont Franz Müntefering in seinem Buch „Unterwegs. Älterwerden in dieser Zeit“. Er ist Vorsitzender der „BAGSO“, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen in Bonn. Das klappt organisatorisch ganz gut, denn er teilt sich seine Zeit auf zwischen Berlin und Herne, wo er im Wahlkreis seiner Frau Michelle wohnt, die Staatsministerin im Auswärtigen Amt ist.

Das Buch hat Müntefering selbst geschrieben, in klarer und unverschnörkelter Sprache. Darin gibt er Tipps fürs Älterwerden, aber teilt auch Erinnerungen, obwohl das Buch ausdrücklich keine Autobiographie ist. Vor allem nimmt der Leser die Botschaft mit, dass es wichtig ist, in Bewegung zu bleiben.

„In Berlin braucht man kein Auto"

Früher, als Müntefering noch in einer Wohnung am Paul-Lincke-Ufer wohnte, ist er oft mit dem M29er-Bus gefahren, der den Hermannplatz in Neukölln mit dem Roseneck im Grunewald verbindet. Und wenn er abends auf dem Heimweg Richtung Kreuzberg war, wurde er auch schon einmal von fremden Menschen angesprochen, denen er selber nach 30 Jahren im Bundestag natürlich nicht fremd erschien: „Herr Müntefering, fahren Sie nicht in die falsche Richtung?“ So als könne sich ein Spitzenpolitiker abends in Kreuzberg nur verfahren haben.

Müntefering fährt gern mit öffentlichen Verkehrsmitteln. „In Berlin braucht man kein Auto. Das wäre Quatsch.“ Die Öffis haben für ihn echtes Weltstadtniveau. „Meistens sind sie auch pünktlich. Und sie kommen so oft, davon kann man im Sauerland nur träumen.“

Am Platz des DDR-Volksaufstandes von 1953, Wilhelm-, Ecke Leipziger Straße, bleibt er stehen, geht einmal um das Kunstwerk herum, das an den Aufstand und die Opfer erinnern soll. Er stoppt auch an der Voßstraße. Dort, ein Stück weit die Straße runter, hat er 1990 die Deutsche Gesellschaft mitgegründet, jenen Verein zur Förderung politischer, kultureller und sozialer Beziehungen in Europa. Unter anderem Lothar de Maizière war dabei, mit dem er sich den Vorstandsvorsitz teilt. Es war der erste gesamtdeutsche Verein nach dem Fall der Mauer.

„Das Gebäude wirkte immer seltsam, das würden sie heute bestimmt anders bauen“, sagt er mit Blick nach rechts auf die Tschechische Botschaft, die ein bisschen wie ein frisch gelandetes UFO aussieht. Das erinnert ihn an historisch bedeutsame Zeiten: „Im Sauerland haben wir 1968 viel mehr über den Prager Frühling gesprochen, als über die Studentenrevolten in Berlin.“ 1940 ist Franz Müntefering im Sauerland geboren.

Der Ullrich-Supermarkt rückt ins Blickfeld. „Da habe ich immer eingekauft!“ Den Erinnerungen nach muss der Markt so eine Art Dorfplatzfunktion gehabt haben. „Einmal sah ich einen Mann, das Käppi tief ins Gesicht gezogen.“ Dann habe er ihn gefragt: „Bist du das, Joschka?“ Auch der frühere Außenminister Joschka Fischer ging dort einkaufen.

Hauptsache Bewegung

An der Ecke Hannah-Arendt-Straße, die damals aber noch nicht so hieß, hat Franz Müntefering fast zehn Jahre mit seiner zweiten, 2008 an Krebs verstorbenen Frau gewohnt. Die hatte ihn damals gebeten, die Wohnung auszusuchen. Quasi im Laufschritt hatte er sich in der hektischen Zeit vor dem Regierungsumzug einige Bleiben angeschaut, sich schließlich zwischen Tür und Angel für die Maisonette-Wohnung ganz oben entschieden. Groß sei sie schon gewesen. „Nur das Bad war so klein“. Was die aktuelle Mietsituation in Berlin betrifft, geht er nicht in die Tiefe. „Vieles ließe sich auch durch Steuern regeln“, sagt er nur.

Im Alt-Berliner Wirtshaus war er auch schon essen, wenngleich nicht oft. „Es gibt hier immer noch diese Pinten, wo es so deftige Berliner Küche gibt.“

Franz Müntefering geht zügig mit seinen 79 Jahren. Früher joggte er gern mal durch den Tiergarten. War ja nur ein Katzensprung von der Wilhelmstraße entfernt. Inzwischen beschränkt er sich auf schnelles Laufen. Hauptsache Bewegung.

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