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Für die Alte Pfarrkirche in Pankow hat Ruth Misselwitz immer noch einen Schlüssel.

© Stefan Weger

Kiezspaziergang durch Pankow: Von der Freiheit, bei sich zu bleiben

Ruth Misselwitz hat als Pfarrerin in Pankow die DDR-Friedensbewegung mitgeprägt. Ein Streifzug durch eine verwurzelte Biografie.

Ruth Misselwitz’ alter Arbeitsplatz liegt im Herzen von Pankow. Zwischen S-Bahnhof und Schlosspark Schönhausen steht die ehemalige Dorfkirche, die heute Alte Pfarrkirche „Zu den Vier Evangelisten“ heißt. Hier war Misselwitz 36 Jahre lang Pfarrerin. Und sie hat immer noch die Schlüssel zur Kirche.

Als „leidenschaftliche Pankowerin“ bezeichnet sich die 68-Jährige mit kurzem rotem Haar. Diese Leidenschaft kommt auch aus ihrer Zeit in der DDR, als sie hier einen Friedenskreis mitgründete, als in die Kirche Stasi-Leute kamen, um sie einzuschüchtern.

Jeden Stein kennt Misselwitz in der Kirche. Die Schlüssel hat sie eigentlich nur, weil die Orgel gerade ausgebaut wurde. „Ich wohne in der Nähe, da konnte ich die Handwerker reinlassen.“ Sie ist erkältet, hat sich bei ihrer Enkelin im Ostsee-Urlaub angesteckt. Die kalte Luft in der Kirche bringt sie immer wieder zum Husten. Aber wenn sie von dem Bau erzählt, lässt sie sich von so etwas nicht unterbrechen, sondern erzählt mit viel Enthusiasmus. Sie erklärt die verschiedenen Bauphasen der 1230 aus Feldsteinen gebauten Kirche, erzählt von den ehemals dunklen Holzdecken, von der Orgel, die gerade in Dresden neu gebaut wird.

1981 hat sie hier begonnen, 36 Jahre lang war sie Pfarrerin. Und zwar nur hier, sie ist nie woandershin gewechselt. „Das, was ich wollte, habe ich nicht gekriegt, und was sie mir angeboten haben, wollte ich nicht“, sagt Misselwitz. Studentenpfarrerin wollte sie werden, hatte sich zu DDR-Zeiten beworben. „Die haben mich aber nicht genommen, weil ich denen zu politisch war.“

In der DDR auf der falschen Seite stehen - das war gefährlich

Und das war in der DDR gefährlich, zumindest, wenn man auf der falschen Seite stand. 1981 gründete sich hier in der Kirche ein Friedenskreis, man war gegen die atomare Aufrüstung. Aber schnell wurde man von der DDR als gefährliche Oppositionsbewegung gesehen – man stand im Widerspruch zur offiziellen „Friedenspolitik der DDR“. „Die haben dann irgendwann Stasi-Leute vorbeigeschickt, die haben wir ‚Lutzis‘ genannt.“ Sie seien zu den Versammlungen gekommen, hätten sich dazugesetzt. Kurze Haare und lange Parkas. „Als wir nach den Namen gefragt haben, sagte der Erste, ‚Ich heiße Lutz Meier‘, der Nächste hieß Lutz Schmidt und der Übernächste Lutz Müller. Da haben wir uns totgelacht.“ Zum Einschüchtern seien die vorbeigekommen, aber man habe trotzdem weitergemacht.

"Das steckt den Pankowern in den Genen"

„Das steckt den Pankowern irgendwie in den Genen. Das ist so ein Geist, der sich über die Generationen erhalten hat.“ Schon zur Nazizeit habe es hier fünf Pfarrer gegeben, die sich alle in der Opposition gegen die Gleichschaltung der Kirche befunden hätten, der Bekennenden Kirche. „Auch nach dem Krieg war die Pankower Gemeinde nie so kleinmütig oder ängstlich. Die waren stolz auf ihre Geschichte.“ Das sei Misselwitz, als sie dort anfing, nicht bewusst gewesen. Es ist aber ein Geist, der dem Naturell der 68-Jährigen entgegenkommt. Sie setzte sich für Frauenrechte ein, als dies noch nicht selbstverständlich war, und für Frieden, als dies gefährlich war.

Auf dem etwa einen Kilometer langen Weg von der Kirche zum Schloss Schönhausen – vorbei am Schlosspark – erzählt sie von der schwierigen Zeit der Friedensbewegung. 1983 sei man ins Visier der DDR-Regierung geraten. „Wir haben einen Brief an die Regierung geschrieben mit der Bitte, dass keine sowjetischen Mittelstreckenraketen stationiert und Gespräche mit der BRD aufgenommen werden.“ Dann kamen die Lutzis. „Uns wurde vorgeworfen, wir würden einen Keil treiben zwischen die Warschauer- Pakt-Staaten und die Sowjetunion, wir wären ein Sicherheitsrisiko.“ Aber sie machten trotzdem weiter.

Aufs Schloss Schönhausen lud Honecker Spitzenpolitiker ein

Das Areal zum Schloss ist dabei die historische Kulisse der Zeit der atomaren Aufrüstung. Bei Staatsbesuchen wurde der Bereich um die Ossietzkystraße komplett abgeriegelt. DDR-Staatsratschef Erich Honecker lud hier westliche Spitzenpolitiker zu Gesprächen ein, wollte eine „Politik der Schadensbegrenzung“ betreiben. Das alles kann man nachlesen in einer kleinen Ausstellung in den Eingangshäusern direkt am Schlossgelände. Auf den Ausstellungstafeln ist aber nicht nur Honecker zu sehen, sondern auch eine junge Ruth Misselwitz und ihre Familie – als Symbol für die alternative Friedensbewegung in der DDR.

Wie ist das für sie, hier durch Pankow zu laufen? „Es ist schön, wie sich alles verändert hat. Ich bin total verwurzelt hier mit den Orten, mit der Kirche, mit den Menschen.“ Ein paar Meter weiter, auf dem Schlossgelände, ist eine weitere Tafel zusehen. Darauf: Misselwitz’ Mann, Hans-Jürgen, als Verhandlungsführer der DDR bei den Verhandlungen zu dem Zwei-plus-Vier-Vertrag, der den Weg zur deutschen Wiedervereinigung ebnete. Pankow ist für Ruth Misselwitz auch Familiengeschichte.

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Vom Schloss geht es in den Majakowskiring, in den zahlreichen Villen des oval geschlossenen Straßenzugs residierten früher Mitglieder der DDR-Regierung, unter anderem Honecker-Nachfolger Egon Krenz, der in den Mauerschützenprozessen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde.

"Es gibt heute so viel kritisches Potential wie damals"

Gegen was kann man denn heute noch sein, gegen was kann man noch opponieren – tun wir es genug? „Ich denke, es gibt heute genauso viel kritisches Potenzial wie damals“, sagt Misselwitz. Die Fridays-for-Future-Bewegung, die finde sie großartig hoffnungsvoll. Ihre Enkelin sei auch schon da gewesen. Für ihre eigene Generation sei es beschämend, dass die Kinder jetzt schreien müssten: „Ihr macht unsere Zukunft kaputt.“ Durch den Majakowskiring geht es Richtung Amalienpark, ein kleiner Platz in der Nähe der Pankower Kirche. Misselwitz bleibt stehen, zeigt auf ein Haus. „Hier wohnte Christa Wolf.“ Eine Mutterfigur sei die Schriftstellerin für sie gewesen. Der intellektuelle Austausch, das Engagement, das war für Misselwitz immer wichtig. Lesungen und Büchertische gebe es immer noch viele in der Gemeinde. Ein Licht sein, das andere anzieht, das sei ihre Methode gewesen.

Noch heute vertritt Misselwitz ihre Überzeugungen

Sie tritt auch heute noch für ihre Überzeugungen ein. Den Friedenskreis gibt es immer noch, sie setzt sich mit ihrem Mann gegen den Bau der Garnisonskirche in Potsdam ein, schreibt Artikel, macht jedes Jahr bei der Lichterkette Pankow, einer Aktion gegen Antisemitismus und Rassismus, mit. Kann man da überhaupt von Ruhestand sprechen? Mehr Zeit habe sie jetzt, sagt Misselwitz. Sie hat ein Buch mit ihrer Enkelin geschrieben, nimmt gerade Klavierunterricht, liest viel. Sie hat jetzt mehr Selbstbestimmtheit als früher.

Die Schlüssel zur Kirche hat sie zwar noch. „Aber, dass ich die Wochenenden jetzt freihabe, ist super.“

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