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Auch die Genthiner Straße hat einen eher rauen Charme, aber Kerstin Ehmer kennt die schönen Ecken.

© Doris Spiekermann-Klaas

Kiez-Spaziergang: Mit Krimi-Autorin und Barbesitzerin Kerstin Ehmer durch Tiergarten

Die Kriminalromane von Kerstin Ehmer sind in den 20er Jahren angesiedelt. Sie kennt Vergangenheit und Gegenwart entlang der Potsdamer Straße.

Man glaubt es kaum. Eben noch ging man über die Genthiner Straße in Tiergarten, Baufahrzeuge rumpeln vorbei, ein paar Autos, ein paar Prostituierte, deren Geschäfte nicht laufen. Dann lotst Kerstin Ehmer einen durch eine Durchfahrt – und man meint, in einer anderen Berliner Epoche angekommen zu sein: Gründerzeitvillen, bloß zwei Geschosse hoch, mit einer nackten Bronze-Venus im Garten, grüner Rasen, alte Bäume, ziemlich vollkommene Ruhe, absolute Autofreiheit. Ein paar Meter Straße ohne Namen, ein kleines Hotel, eine Menge Gebüsch, in dem Kerstin Ehmers Foxterrier Alma herumstöbern kann.

Lesung in der Victoria Bar

Es könnte die Kulisse aus einem der beiden Romane der Autorin um den Kommissar Ariel Spiro sein, den es aus der märkischen Provinz ins brausende Berlin verschlagen hat. Den zweiten – „Die schwarze Fee“ – hat sie gerade veröffentlicht, präsentiert ihn nun in der Victoria Bar an der Potsdamer Straße. Die betreibt sie mit ihrem Mann zusammen.

Als die Potsdamer Straße noch nicht von Galerien gesäumt und bloß „Potse“ genannt wurde, war die Bar einer der wenigen Orte, um sich von der zehrenden Hässlichkeit des Kiezes zu erholen.

Hässlich – und spannend war die Gegend um die Potsdamer, die Kurfürsten, die Genthiner und die Lützowstraße über viele, viele Jahre. Fast so viele Jahre hat Kerstin Ehmer direkt im Kiez gewohnt. Jetzt unterhält sie hier noch eine Wohnung zum Arbeiten. Sie sieht, was in der Gegend war und was sich gerade ändert, und sie ahnt ein bisschen, wie es wird.

Beim Weg zurück auf die Genthiner sieht man die aus schönem, rostrotem Metall bestehende Fassade eines der vielen Neubau-Projekte, die die Genthiner und die Kurfürstenstraße zu Großbaustellen machen.

Kulisse für düstere Romane

Da sei ein Möbelhaus gewesen, jetzt entstünden Eigentumswohnungen, sagt Kerstin Ehmer. Wieder auf der Genthiner Straße, erinnert sie an den „Hausfrauenstrich“, den es hier mal gab. Strich – das ist klar in dieser Gegend. Aber Hausfrauenstrich? Sie habe schon Damen mit Lockenwicklern in den Haaren ihre Dienste anbieten sehen, lacht die Autorin, die ihre Freude am Schreiben erst in etwas fortgeschrittenem Alter auszuleben begonnen hat.

Kerstin Ehmer hat sich auf ein Terrain begeben, das nur auf den ersten Blick anziehend und leicht zu erobern wirkt: Zwanziger-Jahre-Krimis. Seit der Serie „Babylon Berlin“ glaubt jeder zu wissen, was dazugehört. Ein kantiger Kommissar, Kokain, Sex, Brutalität, große Armut, großer Reichtum, sehr lange Nächte und die Ahnung kommenden Verderbens.

Volker Kutscher hat es vorgemacht – und Kerstin Ehmer ist mit eleganten Schritten einen anderen Weg gegangen. Ihr Kommissar Ariel Spiro geht bei den Kollegen als Jude durch, aber er ist keiner.

Prostituierte, Syphilis – das Leben auf dem Straßenstrich

Schon in Kerstin Ehmers Erstling „Der weiße Affe“ lernt er eine junge Frau kennen, die aus der Gegend kommt, die Kerstin Ehmer gerade vorgeführt hat: Gründerzeitvilla, kein altes, aber solides Geld. Was sich hier und heute als Nachkriegsberlin der neuen Nüchternheit präsentiert und sieben Geschosse hochragt, war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Gegend, in der man baute und wohnte, wenn man es als Industrieller oder Bankier zu etwas gebracht hatte.

Nikes Vater war Bankier und wurde Mordopfer, und zwar am Ende einer bizarren Beziehung. Jetzt ist Nike Medizinerin und hat es mit einem Massenphänomen zu tun, von dem man sich heute kaum noch eine Vorstellung macht: Syphilis.

Kerstin Ehmer schreibt Krimis mit einer gesellschaftlichen und einer wissenschaftlichen Aufladung. Sie liest viel, bevor sie zu erzählen beginnt. Sie habe beim Schreiben eine Wand voller Zettel, Fotos, alter Karten vor sich. Im „Weißen Affen“ hatte der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld einen Auftritt, dessen Institut nicht weit weg von Ehmers Kiez zu finden war.

Jetzt, in „Die schwarze Fee“, rottet ein Mann, den die Syphilis verfaulen lässt, in einer Wohnung vor sich hin. Und Nikes Professor macht Selbstversuche mit Medikamenten.

Auf der anderen Straßenseite hat in diesem Moment eine Prostituierte, in deren Blut ein offenbar sehr aufregender Stoff sein Unwesen treibt, Streit mit einem Mann und einer Frau angefangen, ausgerechnet vor dem Arbeitsgericht am Magdeburger Platz. Die Aufgeregte schreit den Mann an, der erst gar nicht versteht, was sie hat. Dann wirft sie ihre Wasserflasche nach ihm, er wirft sie zurück. Die Aufgeregte geht davon, laut schreiend: „Ich will euch doch nur helfen!!“

Die Gentrifizierung schreitet langsam voran

Der Strich und das kleinteilige West-Berlin haben hier in der Gegend lange alles dominiert: junge Frauen auf Heroin, junge Männer, die einen Auto-Im-und-Export betrieben. Galerien, ebenso wie Hotels und Pensionen, die heute in den schön gemachten Hinterhöfen residieren, waren die ganz große Ausnahme. Es gab Druckereien, Werkzeughändler, Hinterhofwerkstätten, Imbisse, Dönerläden.

Manche gibt es immer noch, andere haben schon aufgegeben, der Wandel ist unaufhaltsam. Kerstin Ehmer erinnert sich an ein Geschäft für Edelsteine, untergebracht in einer etwas verkommenen Hinterhof-Wohnung, gesichert wie ein wohnungsgroßer Tresor. Hinten an der Flottwellstraße, an der heute ein Haus mit Eigentumswohnungen neben dem anderen steht und den Gleisdreieckpark säumt, konnte man auf einer Golf-Ranch den Abschlag trainieren und einem ehemaligen Eisenbahngelände bei der Selbstbegrünung zusehen.

Trotzdem sieht Kerstin Ehmer hier noch nicht den großen Gentrifizierungsfleischwolf am Werk. Sicher, es gebe einen Hype um die Gegend, sagt sie, und „ganz viel Mittagstisch“. Aber sie kenne auch Leute, die hier seit Jahren in wunderbaren Altbauwohnungen wohnten, sagt sie. Die Galerien? Die Potsdamer sei noch keine „florierende Geschäftsstraße“, meint Kerstin Ehmer. Auffällig seien derzeit die vielen Glücksspielhallen. Hatte der Senat dagegen nicht mal was unternehmen wollen?

[Lesung am Montag, 16. September, 19 Uhr, in der Victoria Bar, Potsdamer Straße 102. Freier Eintritt.]

Kerstin Ehmer will zu dem kleinen Park am Magdeburger Platz. Der sei so schön schräg, sagt sie. Kinder bespielen den Spielplatz. Auf einer Bank liegt ein Mann, eine schwangere Frau beugt sich über ihn und küsst ihn. Dort, wo das Haus mit der dunklen Fassade steht, stand in ihrer Vorstellung die Villa von Nikes Eltern. Neben der Wiese ein großes Wasserbecken aus Stein, in das irgendjemand irgendetwas Ekliges versenkt hat. Hier könnte der Mann aus dem Wedding gestanden haben, der Nike in „Die schwarze Fee“ unauffällig bis zu ihrem Haus folgt.

Nike hat etwas leidenschaftlich Unpassendes mit dem Sohn des Mannes – und der Jüngling ist verschwunden. Bei der Suche nach ihm haben sich ihre und seines Vaters Wege gekreuzt. Kerstin Ehmer schafft es mit ihrer Sprache, den aus heutiger Sicht schluchtentiefen Abgrund zwischen dem bürgerlich-feinen Berlin-Tiergarten und dem Malocher-Bezirk einige Kilometer nördlich sichtbar zu machen.

„Immer dem Geruch nach“

Ein Mann, der die langen Haare glänzend schwarz gefärbt hat, passiert die Grünanlage. Er trägt schwarzweiß-längsgestreifte Pluderhosen. An der Leine führt er eine weiße Dogge mit einem schwarzen Fleck ums Auge. Die Dogge niest. Der Mann tönt: „Erwarte nicht, dass ich Gesundheit sage, diesmal!“

Um die Ecke: die Lützowstraße. Ein thailändisches Restaurant, fast daneben eine Mischung aus Kneipe und Automaten-Casino. Kerstin Ehmers Hund bekommt frisches Wasser. Zur Toilette? „Immer dem Geruch nach“, scherzt der Inhaber. Er plaudert mit einem schwergewichtigen Gast, der seinen Rollator vor sich stehen hat. Hier wird noch „Schultheiß“ ausgeschenkt, das Standard-Pils zu Teilungszeiten.

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