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Berlin: Kerstin Augustin (Geb. 1963)

"Ein Haus ohne Auguste? Dann zieh' ich aus!"

Augustes Vermächtnis? Ihr Rezept für Holunderblütensirup: „60 –80 Holunderblüten. Blüten kurz über dem Stielansatz abschneiden. In einen großen Topf legen, 2 kg Zucker dazu, 2 Liter Wasser aufkochen und über die Blüten und den Zucker kochend gießen. 40 g Zitronensäure mit unterrühren. 2 –3 Tage zugedeckt stehen lassen, immer mal gut durchrühren, damit der Zucker sich löst. Durch ein Tuch filtrieren, im großen Topf aufkochen lassen, heiß in Flaschen füllen. Ich nehme leere Ketchupflaschen. Zudrehen. Kühl und dunkel lagern. Angebrochene Flaschen in 3 –4 Wochen aufbrauchen. Guten Appetit!“

Auguste hatte noch jede Menge mehr Rezepte, handgeschrieben, die sie gern verteilte, noch lieber kochte. Fürsorglich ohne Ende. Eigentlich die ideale Jugendherbergsmutter. Nicht zu zierlich gebaut, kein bisschen auf den Mund gefallen, mit dem Willen, anderen auch dann die Meinung zu sagen, wenn die gerade gar keinen Wert darauf legen. Ihr Zepter, den Kochlöffel, hatte ihr die gute Fee in die Wiege gelegt. Leider war auch die böse Fee zugegen gewesen.

Auguste wuchs in einem kleinen Dorf in der Oberlausitz auf, ein Bauernkind, das kränkelte. Ihr Herz war immer schon riesengroß, was die Liebe für andere anging, aber schwach, wenn es ums Pumpen ging. Sie schien immer so stark, dennoch untergrub eine Autoimmunkrankheit ihre Abwehr. Irgendwann versagten die Nieren, sieben Jahre Dialyse folgten, erst 2010 bekam sie eine gesunde Niere. Mit ihr kam die Angst, das neue Organ zu verlieren. Auguste musste sich mit einem Gefühl vertraut machen, das ihr eigentlich ganz fremd war: Zaghaftigkeit.

Zaghaft war sie nie gewesen. Als ihre beste Freundin im Sterben lag, da ließ sie die Prüfungen sausen, um sich um sie zu kümmern. Auguste hatte Apothekenhelferin gelernt, später schulte sie auf Heilerziehungspflegerin um. Sie arbeitete mit geistig behinderten Menschen und gewann leicht ihre Herzen: Jeder Mensch isst gern gut. Aber damit war sie nicht ausgelastet. Auguste töpferte, filzte, strickte, kochte Marmeladen, lernte schneidern und hatte ein Auge darauf, dass in der Nachbarschaft alles gut ging.

Ihr Herrschaftsgebiet war der Kiez am Treptower Park, ihre Uniform ein bunter Turban, Pluderhosen, ein bunter Schal. Sie war nicht zu übersehen beim Einkaufen, schon gar nicht zu überhören. Kein Spaziergang ohne einen Schwatz mit Nachbarn und Freunden. Und zum Freund konnte jeder werden, der sich ihrer freundlich-fürsorglichen Herrschaft fügte.

Die Leute werfen ja viel zu viel weg! Wenn da also eine Strickjacke von der einen Freundin nicht mehr getragen werden mochte, dann war das doch was für die andere Freundin. Babysitten? Wann immer sie gebraucht wurde.

Ein Glas Gelee, selbstgestrickte Pulswärmer, ein paar warme Socken zur rechten Zeit, das hilft gegen jeden Kummer. Gegen fast jeden.

Der Vater ihres Kindes war schon Jahre zuvor gegangen, der Sohn musste ausziehen, weil ein Wasserschaden sein Zimmer unbewohnbar machte. Als Auguste einmal kundgab, dass sie vielleicht auch bald selbst würde umziehen müssen, da meinte der kleine Sohn der Nachbarin: „Ein Haus ohne Auguste? Dann zieh ich auch aus!“

Es wurde ein wenig einsam um sie, auch wenn sich jeder kümmerte. Arm und krank zu sein, und sich mit den Behörden um jeden Euro streiten zu müssen, ist nicht leicht. Und für alle da zu sein, ist nicht immer Ersatz für das Gefühl, für einen ganz allein da sein zu können. Den Traum von der großen Liebe konnte sie nicht mehr so recht träumen, aber es blieb ja auch nicht so viel Zeit. Da waren ihre Balkone zu begrünen, das Kleid für die Tochter der Freundin zu nähen, die Hoffeste vorzubereiten, das Picknick auf der Wiese. Ein Grab im Wald und ein Fest wünschte sie sich nach ihrem Tod. Auftischen nach Augustes Rezept. Die leckeren kleinen Hackfleischbällchen, Hummus mit viel Knoblauch, das Tandoori-Chicken, ritzeratzerot gewürzt, süße Plätzchen und der Holundersirup. Wer da nicht dem Himmel dankt und natürlich Auguste, der ist ein böser Mensch. Gregor Eisenhauer

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