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Justiz- und Verbraucherschutzsenator Dirk Behrendt. Anfang 2017 schuf seine Behörde 20 neue Strafkammern am Landgericht.

© Paul Zinken/dpa

Keine Richter, Dienstzimmer, Säle: Die Phantomkammern des Justizsenators

Um seine Richter zu entlasten, schuf Dirk Behrendt sechs neue Strafkammern. Einige von ihnen existieren allerdings lediglich auf dem Papier.

Von Fatina Keilani

Von den sechs neuen Strafkammern, für deren Einrichtung sich Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) kürzlich rühmte, sind zumindest drei nicht existent. Für die Kammern gibt es keine Richter, keine Geschäftsstellen, keine Dienstzimmer und keine Säle. Das berichtete ein Richter des Landgerichts in einem Brief an den Tagesspiegel; weitere Richter bestätigten die Schilderung.

Doch der Fakt lässt sich sogar online im Geschäftsverteilungsplan des Gerichts nachschlagen: Er zeigt an vielen Stellen „N.N.“ statt eines Namens. „Diese Kammern gibt es nur auf dem Papier. Und fünf weiteren Kammern bei uns fehlen Beisitzer“, schreibt der Strafrichter, der selbst in einer großen Strafkammer sitzt. Sechs große Strafkammern wurden laut Senatsverwaltung seit Jahresbeginn 2018 geschaffen.

Ein Staatsanwalt bestätigt die Darstellung ebenfalls und sagt: „Seit dem Brandbrief hat sich nichts geändert.“ Der Brandbrief war ein Schreiben des Landgerichtspräsidiums an den Justizsenator im September 2017, also vor anderthalb Jahren. Darin stand unter anderem, dass 17 von 21 allgemeinen großen Strafkammern von der turnusmäßigen Verteilung neu eingehender Haftverfahren ausgenommen wurden, da sie bereits überlastet waren. Ein ehemaliger Richter sagt, es sei seit dem Brief eher noch schlimmer geworden.

Die „Erfolgsmeldungen“ aus dem Hause Behrendt ärgern die Beschäftigten in der Justiz; ein Staatsanwalt nennt Behrendts Behörde wütend „Propagandaministerium“. Der Briefeschreiber spricht von „Halbwahrheiten“, über die er sich geärgert habe. Selbst bei den real existierenden Kammern seien viele personell längerfristig unterbesetzt, weil es keine Richter gebe, die die vakanten Stellen besetzen können. So sei die Vorsitzende einer anderen großen Strafkammer längerfristig erkrankt; die Stelle müsse dringend besetzt werden.

Er verstehe auch nicht, warum alles so lange dauere. Bis qualifizierte Juristen nach ihrem zweiten Staatsexamen eingestellt würden, vergehe nicht selten fast ein Jahr, das könne er gut an den Referendaren beobachten. Sein letzter Referendar habe im November 2018 das zweite Staatsexamen abgelegt und werde zum 1.Oktober 2019 eingestellt. „Als ich Richter wurde, dauerte das bloß zwei Monate“, sagt ein 62-jähriger Richter, und andere dienstältere Richter bestätigen das. Kammergerichtspräsident Bernd Pickel ist die Problematik schmerzlich bewusst. In anderen Bundesländern gehen solche Verfahren wesentlich schneller und schlanker über die Bühne. Wer in Berlin im Verfahren ist, woanders aber schneller ein Angebot bekommt, das zumeist noch besser besoldet ist, der springt ab.

Strafkammern sind überlastet

Die Senatsverwaltung bestätigte, dass das Auswahlverfahren in Berlin sehr langwierig sei. Die „leeren“ Kammern seien auch dadurch zu erklären, dass der Geschäftsverteilungsplan jährlich erstellt werde und man neue Kammern darin einplanen müsse, auch wenn es die Personen auf den Stellen noch nicht gebe.

Zu den neuen Strafkammern teilte die Justizverwaltung mit: „Seit Anfang 2017 wurden am Landgericht 20 neue Strafkammern eröffnet. 16 davon wurden bereits besetzt. Die vier übrigen Kammern sollen noch in diesem Jahr besetzt werden.“ Die Lage habe sich sehr wohl gebessert, und zwar deutlich. In der Tat wurde das Personal in Form von Stellen deutlich aufgestockt – nur dass sich der Segen bisher nicht bemerkbar macht.

Zumal es dramatisch an Räumen fehlt. Sehr häufig müssen sich zudem Richter ein Zimmer teilen, sogar im Kammergericht – wenn einer telefoniert, ist der andere bei der Konzentration gestört. Viele Richter arbeiten deshalb lieber zuhause, wo sie wiederum für Rechtsanwälte schlecht erreichbar sind.

„Ich sage meinen Bekannten immer, Ihr könnt ruhig Straftaten begehen, Ihr habt nichts zu befürchten“, sagt ein Richter polemisch. „Meine Kammer hat seit fünf Jahren keine einzige Nicht-Haftsache mehr verhandelt.“ Obwohl eine Straferwartung von mindestens vier Jahren im Raume stehe, könnten diese Straftaten, egal ob es Betrug, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung oder Raub sei, nur verfristet werden. „Die Straftaten werden ungesühnt bleiben und verjähren. Das ist rechtsstaatswidrig“, sagt der erfahrene Strafrechtler.

Wegen des Beschleunigungsgebots für Fälle, in denen der Angeklagte in Untersuchungshaft sitzt, können die überlasteten Strafkammern praktisch nichts anderes mehr verhandeln. Der Rockerprozess um Kadir P. bindet seit fast fünf Jahren eine Strafkammer nahezu vollständig, wodurch sie für alles weitere ausfällt.

Zuletzt hatte der Fall des Christian M. Aufsehen erregt, der eine Vielzahl von Taten des sexuellen Kindesmissbrauchs begangen haben soll und dessen Haftbefehl dennoch kürzlich vom Kammergericht aufgehoben wurde – versehen mit außergewöhnlich deutlichen Worten seitens des Strafsenats. Im Mai beginnt ein großes Verfahren gegen Angehörige eines arabischen Clans, doch die verhandelnde große Strafkammer ist bisher unvollständig. Ihr fehlt ein Beisitzer. In dem Verfahren geht es auch um die 77 beschlagnahmten Immobilien, die einem Clan nach den neuen Einziehungsregeln weggenommen wurden. Das Verfahren dürfte die Kammer auf Jahre lahmlegen, denn von den Anwälten des R.-Clans ist Widerstand zu erwarten. Manche sehen es fast als Wunder, dass die Kammer überhaupt terminiert hat, obwohl es sich nicht um eine Haftsache handelt. Von den Beschuldigten ist keiner in Untersuchungshaft. „In Haft“ sind hier allerdings deren eingezogene Immobilien.

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