zum Hauptinhalt
Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses.

© Gregor Fischer/dpa

„Keine Reform der Schule, sondern eine Deformierung“: Das Parlament macht Berlin mit dem neuen Schulgesetz ein U für ein X vor

Für das Schulgesetz gab es einen mit der Stadtgesellschaft abgestimmten Senatsvorschlag. Dann ging er ins Abgeordnetenhaus – und wurde Opfer von rot-rot-grüner Ideologie. Ein Gastbeitrag.

Ralf Treptow, 61 Jahre alt, leitet seit mehr als 30 Jahren das Rosa-Luxemburg-Gymnasium in Pankow und ist ehemaliger Vorsitzender des Gymnasialleiterverbandes „Berliner Vereinigung der Oberstudiendirektoren“ (VOB).

Vorsicht: Wenn Sie diese Posse lesen, könnten Sie den Glauben an das Berliner Abgeordnetenhaus verlieren. Zur Sache: Die Senatsbildungsverwaltung bringt nach langjährigen Diskussionen den Entwurf für die Novelle des Schulgesetzes, eines wichtigen Berliner Landesgesetzes, ins Parlament ein. Dieser Entwurf berücksichtigt Fakten und Entwicklungen der letzten Jahre, wird Verbänden und Landesgremien zu deren Stellungnahme übergeben, diese werden gewichtet, der Entwurf, nennen wir ihn X, wird in den Senat eingebracht und findet dort die Zustimmung mindestens der Mehrheit der Senatsmitglieder.

Der Entwurf X wird an das Parlament überwiesen, dort soll er am 02.09.21 zuerst in dem zuständigen Ausschuss beraten werden. Wenige Stunden vor dem Sitzungsbeginn wird jedoch den Ausschussmitgliedern aus den Reihen der Fraktionen, die den Senat tragen (sollten), ein völlig veränderter Gesetzesentwurf mit 76 Seiten präsentiert, nennen wir ihn U.

Wesentliche Punkte aus der Senatsvorlage X sind herausgestrichen, andere, sehr schwerwiegende Veränderungen eingefügt. Veränderungen, zu denen es keinerlei öffentliche Diskussion in der Stadt, in Verbänden, in den Landesgremien, mit von den Veränderungen Betroffenen gab. Veränderungen, von denen eine Handvoll Parlamentarier glaubt, sie seien sinnvoll. U wird im Bildungsausschuss mit den Stimmen der Fraktionen, die den Senat tragen (sollten), befürwortet. Die Vorlage X des Senats mutierte endgültig zu U.

Ralf Treptow, Leiter des Rosa-Luxemburg-Gymnasiums und Ehrenvorsitzender der Vereinigung der Oberstudiendirektoren Berlin (VOB).
Ralf Treptow, Leiter des Rosa-Luxemburg-Gymnasiums und Ehrenvorsitzender der Vereinigung der Oberstudiendirektoren Berlin (VOB).

© Privat

[Ob Wohnen, Verkehr, Sicherheit oder Gesundheit: Alles, was Sie zur Berlinwahl am 26. September wissen müssen, finden Sie jetzt auf der interaktiven Wahlseite des Tagesspiegel.]

Am 05.09.21 bekommt ein Verband Kenntnis vom Entwurf U. Innerhalb weniger Stunden protestieren mehrere Verbände und melden Bedenken an, der Tagesspiegel informiert dankenswerterweise die Berliner Öffentlichkeit. Der Protest reißt bis heute nicht ab. Am 08.09.21 gehen dennoch sowohl X wie U in den Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses.

Der mutierte Gesetzentwurf U wird, Sie ahnen von welchen Fraktionen, angenommen – als einer von über 30 Tagesordnungspunkten und wahrscheinlich ohne jede Diskussion. Es darf bezweifelt werden, dass alle Mitglieder der drei den Berliner Senat (eigentlich) tragenden Fraktionen die 76 Seiten des Entwurfes U überhaupt kannten. Im Protokoll des Hauptausschusses steht, dass X angenommen sei. X wurde zu U – der Öffentlichkeit wird das aber verschwiegen.

[Sie haben die Wahl! Mit dem Berlin-O-Mat des Tagesspiegel können Sie herausfinden, welche Partei Ihnen in Berlin am nächsten steht  auch in ihrem Bezirk.]

Das alles wiegt umso schwerer, weil der vorab öffentlich diskutierte Entwurf X einen ganz sensiblen Bereich unserer Stadt betrifft: Die Berliner Schule. Schule verändert sich als Folge eines transparenten Meinungs- und Abwägungsprozesses und das benötigt Zeit. Schule verändert sich nicht, weil einige wenige Parlamentarier ihre eigenen Ideen höher einschätzen als einen substanziellen Meinungsbildungsprozess und die Fakten der letzten Jahre aus der eigenen Ideologie heraus einfach mal ignorieren.

[Protest gegen rot-rot-grünes Schulgesetz: „Berlins Schule kann so nicht mehr geführt werden“ (T+)]

Der Ort Schule braucht Ehrlichkeit, Beteiligung und Transparenz, nicht nur an jeder einzelnen Schule, sondern gerade auch im politischen Meinungsbildungsprozess. Schule benötigt kein Schaustück dafür, wie man geräuschlos aus einem X ein U macht.

Dieser Entwurf ist keine Reform, sondern eine Deformierung

Man kann nur hoffen, dass sich alle Mitglieder des Abgeordnetenhauses bewusst sind, wie aus einem X ein U gemacht wurde. Der Gesetzesentwurf X des Senats ist ganz sicher am Ende der Legislatur keine grundlegende Reform des Schulgesetzes, aber er ist vernünftig und widerspiegelt Fakten und Entwicklungen der letzten Jahre. 

Kämen die darin vorgesehenen Veränderungen, würde z.B. der Mehrheit der derzeitigen und der zukünftigen Berliner Schülerinnen und Schüler in der Jahrgangsstufe 10 der Gymnasien endlich mehr Lernzeit in der Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe ermöglicht.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Wird dagegen in dieser Woche im Parlament U verabschiedet, werden a) die Lernzeit um eine Woche pro Schuljahr durch die Einführung gesetzlich nicht definierter „Klassenräte“ gekürzt, werden b) an mehreren Stellen demokratische Grundsätze an der Berliner Schule ausgehebelt, darüber hinaus c) Persönlichkeitsrechte durch öffentliche Diskussionen von Einzelangelegenheiten missachtet und auch noch d) Verantwortlichkeiten für die jeder Schule zur Verfügung stehenden Finanzen unerkennbar, wodurch schnelles und notwendiges Handeln an den Schulen in Angelegenheiten, die Finanzen der Schulen bedürfen, verhindert werden würde. Und das alles würde mit der Annahme von U ohne jegliche Diskussion in der Stadtgesellschaft geschehen.

Beschließt das Abgeordnetenhaus diese Woche den Entwurf U, dann käme es zu keiner Reform der Berliner Schule, sondern zu deren Deformierung. Mal abgesehen davon, dass wegen dieses rot-rot-grünen „Meinungsbildungsprozesses“, den man nur als politische Trickserei einiger Fraktionsmitglieder bezeichnen kann, der Vertrauensverlust in das Berliner Parlament immens wäre.

Ralf Treptow

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false