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Zu Beginn der Coronakrise war es vor allem der Wegfall der Tagespflegen, die zu vielen kritischen Situationen führte.

© Christoph Schmidt/dpa

Keine Hilfe, keine Lobby, keine Impfung: Pflegende Angehörige sind in der Coronakrise besonders belastet

Die seit Monaten anhaltende permanente Ausnahmesituation, zehrt an den Kräften vieler Angehöriger – oft um den Preis der eigenen Gesundheit.

Von Sandra Dassler

Karin und Joachim Wolf (Namen geändert) sind beide über 70 und krank. Sie wohnen im Berliner Stadtteil Rudow. Joachim leidet unter ALS, einer nicht heilbaren degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems, die immer tödlich verläuft. Er wird zweimal täglich vom Pflegedienst und ansonsten von seiner Ehefrau Karin versorgt.

Seit bei ihr vor einigen Monaten Brustkrebs festgestellt wurde, sucht sie nach einer Betreuungsmöglichkeit für ihn: zunächst erst einmal nur für die Zeit, in der sie ins Krankenhaus muss. Sie wird operiert, danach stehen wahrscheinlich Chemotherapie oder Bestrahlung an.

Karin Wolf ist verzweifelt. Sie möchte ihren Mann gerade in diesen Zeiten nicht in ein Pflegeheim geben. Der Pflegedienst kann aber nur maximal drei Mal am Tag kommen und das reicht nicht aus, um Joachim Wolf angemessen zu versorgen. Kinder oder andere nähere Verwandte haben die beiden nicht. Bliebe noch eine sogenannte Kurzzeit- oder Verhinderungspflege, wo ihr Mann vollstationär, aber eben nur für maximal 28 Tage aufgenommen würde.

Doch die beiden Einrichtungen, die ihr der Pflegedienst empfohlen hat, haben keine freien Plätze.

Karin Wolf war ihr ganzes Leben lang optimistisch, hat sich nie unterkriegen lassen. Doch jetzt verlässt sie die Kraft. Der bevorstehende Abschied von ihrem Mann (vielleicht für immer), die Ungewissheit, wie und wo er betreut wird, die Angst vor der Operation oder der Ansteckung mit Corona im Krankenhaus – sie weiß einfach nicht mehr weiter.

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„Ich hatte wirklich Bedenken, dass die beiden über einen Suizid nachdenken“, sagt die Leiterin der Pflegeberatung „Premio“, Christine Schmidt-Statzkowski. Als Pflege-Sachverständige erarbeitet sie nicht nur Gutachten für Sozialgerichte, sondern berät auch Betroffene. Im Fall der Wolfs suchte sie am Ende selbst nach einer geeigneten Kurzzeitpflege.

„Beim Telefonieren kam sogar ich an meine Grenzen“

„Beim Telefonieren kam sogar ich an meine Grenzen“, erzählt sie: „Wenn ich endlich eine Einrichtung mit freien Kapazitäten hatte, nahmen die nur Frauen auf. Oder nur Corona-Positive. Es ist mir ein absolutes Rätsel, warum man nicht organisieren kann, dass Pflegedienste, Pflegestützpunkte oder auch Krankenkassen eine täglich von den Einrichtungen aktualisierte Liste für die Suchenden haben.

An jedem Morgen die Zahl und Art der freien Kapazitäten zu melden, erspart doch auch den Einrichtungen zahlreiche Telefonate mit Anfragen.“

Am Ende fand Christine Schmidt-Statzkowski doch noch einen Platz für Joachim Wolf. Bei seiner Aufnahme sollte er einen maximal 48 Stunden alten negativen Corona-Test vorlegen. „Da musste ich wieder lange telefonieren“, sagt die Pflegesachverständige: „Denn normalerweise dauert es schon drei Tage, bis das Ergebnis von den Laboren kommt.“

Das Schlimmste aber sei, dass die Wolfs kein Einzelfall sind, kritisiert Christine Schmidt-Statzkowski: „Ich könnte noch viele Geschichten von Menschen erzählen, die sich seit Jahren um ihre Angehörigen kümmern und jetzt in den schwersten Zeiten keine Hilfe finden.“

Angehörige betreuen fast 80 Prozent der knapp vier Millionen Pflegebedürftigen

Auch der Tagesspiegel hatte mehrfach über die schwierige Situation pflegender Angehöriger berichtet, die von der Politik zu oft einfach vergessen werden. Dabei betreuen sie fast 80 Prozent der rund vier Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland – teilweise in Kombination mit den ambulanten Pflegediensten.

Zu Beginn der Coronakrise waren es vor allem der Wegfall der sogenannten Tagespflegen, wo die Betroffenen stundenweise betreut wurden, und die mangelnde Ausstattung der ambulanten Pflegedienste mit Schutzkleidung und Masken, was zu vielen kritischen Situationen führte.

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Heute ist es eher die seit Monaten anhaltende permanente Ausnahmesituation, die an den Kräften vieler Angehöriger zehrt, sagt die Charlottenburger Pflegesachverständige Barbara Loczenski: „Noch immer sind die Kapazitäten in den entlastenden Angeboten durch die Pandemie und ihre Folgen in der Kurzzeit-, Verhinderungs- und Tagespflege erheblich reduziert.

Das gilt auch für die zu vermittelnden Hilfsangebote durch die Pflegestützpunkte. Und noch immer denkt beispielsweise auch bei der Festlegung von Impf-Prioritäten niemand an die pflegenden Angehörigen. Kurse für sie dürfen nicht mehr stattfinden, ebenso wenig wie die individuelle Beratung vor Ort, in den eigenen vier Wänden.“

„Vieles kann man am Telefon gar nicht besprechen“

Letzteres ist auch für Christine Schmidt-Statzkowski ein unhaltbarer Zustand. „Vieles kann man am Telefon gar nicht besprechen“, sagt sie. „Wenn es beispielsweise um die Festlegung des Pflegegrades geht, muss man den betroffenen Menschen auch vor sich sehen.“

Bettina Jonas, die Leiterin des Geschäftsbereichs Pflege beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) für Berlin und Brandenburg, verteidigt die Regelung, Pflegebedürftige derzeit nicht zu Hause aufzusuchen. „Ein Gutachter geht normalerweise am Tag in sechs bis sieben Haushalte. Das Risiko, dabei jemanden anzustecken, ist einfach viel zu groß.“

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Außerdem hätten die Pflegestützpunkte ihre telefonischen Beratungszeiten sogar ausgeweitet, um die fehlende persönliche Beratung zu Hause zu ersetzen. In den Stützpunkten selbst könne man mit vorheriger Terminabsprache auch weiterhin persönlich vorsprechen.

Christine Schmidt-Statzkowski hat allerdings oft genug erlebt, dass manche Menschen gar nicht mehr in der Lage sind, nach Hilfe zu fragen oder zu suchen. Das betrifft vor allem jene, die bislang alleine lebten und gut klarkamen, aber durch Corona oder eine andere Krankheit schwächer geworden sind, sagt sie.

Schmidt-Statzkowski erlebt, dass Krankenhäuser pflegebedürftige Menschen einfach entlassen

Und erlebt immer wieder, dass Krankenhäuser ältere oder pflegebedürftige Menschen einfach entlassen – ohne nachzufragen, wer sich um sie kümmert. „Wenn ich dann darauf hinweise, dass sie genau dazu nach dem Entlassungsmanagement verpflichtet sind, höre ich immer nur: ,Wir haben doch Corona!’ Als ob damit alle anderen Regeln außer Kraft gesetzt wären.“

So kämpfe sie sich manchmal in völlig verwahrlosten Wohnungen nicht nur im übertragenen Sinn durch Dreck und Schlimmeres, erzählt sie. Verbessert habe sich – wenn überhaupt – nur die Angebotssituation in den Pflegeheimen. Da gibt es jetzt einfach mehr Plätze – leider aus dem makabren Grund, dass so viele ältere Menschen gestorben sind.

Und auch, weil die meisten Angehörigen gerade in diesen Zeiten Mutter oder Vater nicht ins Heim geben wollen – leider nur allzu oft um den Preis der eigenen körperlichen oder seelischen Gesundheit.

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