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In der Berliner Gemeinde haben die Missbrauchszahlen niemanden überrascht.

© dpa

Katholiken in Berlin: Beklemmende Stille: Keine Debatte an der Basis nach Missbrauchs-Studie

Unter Berlins Katholiken hat die jüngste Missbrauchsstudie keine neue Debatte ausgelöst. Die Kirchenbasis sorgt sich um grundsätzliche Fragen.

Der Mann ist Mitte 60, er ist seit ein paar Jahren in der Katholischen Kirchengemeinde St. Marien Liebfrauen in Kreuzberg, im Sonntagskreis wussten sie natürlich einiges über ihn, aber die schreckliche Wahrheit, seine bittere Geschichte, die kannten sie nicht. Die erfuhren die Gemeindemitglieder Mitte September. Da erzählte der Mann, völlig aufgewühlt, den Tränen nahe.

Es war minderjährig, Internatsschüler, als ihn ein Pfarrer sexuell missbrauchte. Nach dem Missbrauch kam die nächste Qual. Der Pfaffe schickte den Jugendlichen, dem er Gewalt angetan hatte, zur Beichte. Er habe ja gesündigt, sagte er ihm, er solle sexuelle Verfehlungen gestehen, natürlich ohne ins Detail zu gehen.

"So etwas ist pervers"

„Der Junge hatte natürlich Angst, dass ihn ohne Beichte Höllenstrafen erwarteten“, sagt Dirk Wetzel. „So etwas ist natürlich pervers“.

Wetzel war dabei, als der Mann den Missbrauch offenbarte. Wetzel ist stellvertretender Vorsitzender des Pfarrgemeinderats von St. Marien Liebfrauen, er berichtet die Geschichte.

Rund 50 Jahre lang hatte das Opfer geschwiegen. Er brach das Schweigen, als er die jüngsten Zahlen über Missbrauch in der katholischen Kirche hörte. 1670 Kleriker haben zwischen 1947 und 2017 in Deutschland mindestens 3677 Minderjährige missbraucht, so das Ergebnis einer internen Studie. Einer davon war der Mann vom Sonntagkreis.

Bischöfe in Erklärungsnot

Die umfangreiche Studie hat die dunkle Vergangenheit der katholischen Kirche grell beleuchtet, die Schockwellen brachten die Bischöfe in Erklärungsnot. Sie sprachen von Reue, von Schuld, sie gelobten Besserung. Der Schock über das Ausmaß des Missbrauchs erreichte auch die Basis, die Kirchengemeinden, dort wo viele engagierte Laien täglich christliche Nächstenliebe zeigen und sich engagieren. In St. Marien Liebfrauen stellte dieser Mann im Sonntagskreis den Ausläufer der Schockwelle dar.

Nur: Er ist eine Ausnahme.

In der Gemeinde, mit ihren Kirchen in der Waldemarstraße und der Wrangelstraße, nimmt man diese Zahlen eher zur Kenntnis. „Das Thema gibt es ja nicht erst seit zwei Wochen“, sagt Wetzel. Spätestens seit 2010, als Pater Klaus Mertes vom Canisiskolleg in Berlin über massenhaften Missbrauch an seiner Schule berichtete, wusste jeder von der Verfehlungen von Klerikern. „Mich haben die neuesten Zahlen nicht überrascht“, sagt Wetzel. Kurze Pause, dann ein Satz wie ein Faustschlag. „Ich hatte eher mit mehr Opfern und Tätern gerechnet.“ Doch um sich zu wagen, an eine Beratungsstelle zu wenden, Signale ernst zu nehmen oder einen Präventionsexperten in die Schule zu holen, braucht es eine ganze Menge.

Das Thema Missbrauch wird nicht diskutiert

St. Marien Liebfrauen ist eine eher untypische Kirchengemeinde, das spielt auch eine Rolle. „Wir betreuen ein Klientel, das sonst in der Kirche nicht so willkommen ist“, sagt Wetzel. Homo- und Transsexuelle sitzen in Gesprächsgruppen mit anderen Gläubigen „und diskutieren über das Evangelium, da geht es auch mal laut zu“, sagt Wetzel.

Den Alltag bestimmen andere Dinge als Missbrauch. St. Marien Liebfrauen wird mit den Nachbargemeinden Herz Jesu und Bonifatius zusammengelegt, da gibt es Schwierigkeiten, über die zu reden ist. Oder Wetzel überlegt sich mit seinem Pfarrgemeinderat, wie man mehr Mitglieder in die Messen locken kann. Rund 6500 Mitglieder hat die Gemeinde, aber nur rund 500 davon sind aktiv. Sie helfen mit, oder sie besuchen zumindest die Messe.

Bettina Jarasch ist die Vorsitzende des Pfarrgemeinderats. „An der Basis wird das Thema Missbrauch schon gar nicht mehr groß diskutiert, weil die meisten wissen, dass sich ohnehin nichts bewegt. Und die Basis weiß, dass es nicht ein Problem der Laien, sondern der Kleriker ist“, sagt sie. Jarasch, auch Grünen-Abgeordnete und unter anderem Sprecherin ihrer Partei für Religionsfragen, zielt auf jenen Punkt, den auch die Studie anklagend wie mit spitzem Finger auf die katholische Kirche richtet: „Kern ist, dass es um eine Machtfrage und um Strukturen der Kirche geht.“

Flache Hierarchien gegen potentiellen Machtmissbrauch

Die Männerbünde, dieser „Klerikerstatus“, das sind für sie Teile der Strukturen. „Der Herr Pfarrer steht, das war früher sogar noch stärker der Fall, auf dem Sockel und hat Macht. Aber Macht verlockt dazu, sie zu missbrauchen.“ Bei St. Marien Liebfrauen kämpfen sie mit einem Leitbild gegen diesen potenziellen Machtmissbrauch. Sie haben es im Pfarrgemeinderat gemeinsam verabschiedet, dieses Leitbild. Flache Hierarchien gehören dazu. Die Laien, die Pfarrgemeinderatsmitglieder also, agieren auf Augenhöhe mit den Klerikern, dem Pfarrer in erster Linie. „Wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass wir einen Teil der Entscheidungen demokratisch fällten, würde ich mich ganz sicher nicht in diesem Gremium engagieren“, sagt Jarasch. Auch andere Mitglieder der Gemeinde wären ohne diese flache Hierarchie nicht aktiv. Diese Gläubigen konzentrieren sich auf die karitative Arbeit, „dort, wo sie als Christ wirken können“. Es ist auch eine Reaktion auf das Gefühl einer gewissen Hilflosigkeit. „Die meisten, die ich kenne, haben sich aus diesen großen Debatten schon ein Stück zurückgezogen, weil sie frustriert sind, weil sich so wenig bewegt.“

Deshalb tritt in der Gemeinde derzeit auch so gut wie niemand wegen der Missbrauchsvorfälle aus der Kirche aus. „Diejenigen, die sich hier engagieren, sind dabei, weil sie sich bewusst für diese Kirchen entschieden haben“, sagt Jarasch. Viele sind es nicht, aber Kreuzberg ist auch ein spezielles Pflaster. Es gibt zwar noch einige Taufen, aber schon die Zahl der Firmungen ist gering, „und spätestens danach sind sie weg“, sagt Jarasch. Prenzlauer Berg ist der Gegenentwurf. Die vielen zugewanderten Katholiken wirken wie eine Frischzellenkur auf das Gemeindeleben.

Es muss über Sexualität gesprochen werden

Der Frust der Bettina Jarasch, er ist durch die klugen Ratschläge der Bischofskonferenz nicht geringer geworden. Die Präventivarbeit an der Basis soll gestärkt werden, Programme werden erstellt, Signale sollen besser erkannt werden. Ist ja alles schön und gut, sagt die Laien-Gläubige Jarasch, „aber an der Basis kann man diese Probleme nicht lösen“. Die Struktur ist das Problem, dort müsse man beginnen. Zum Beispiel mit dem Thema Sexualität. „Die geht ja nicht verloren, nur weil man zölibatär lebt.“ Aber über so ein Thema zu reden, das „würde denen viel abverlangen“.

Dirk Wetzel sieht das genauso. „Wenn man nicht offen über Sexualität redet, kann man auch nicht über Missbrauchsfälle reden.“ Wetzel sagt, was viele Katholiken denken: „Ausgerechnet jene, welche die Moral propagieren, die haben sich an anderen vergangen. Da denkt man sich ja schon, was steht da für Priester vor einem.“ Schon in der Ausbildung müsse sich etwas ändern. Vor allem aber dürfe es das Tabu Sexualität nicht mehr geben. Immerhin, unter Papst Franziskus, seit 2013 im Amt bewege sich etwas. „Er ist ein Hoffnungsträger.“

Der Mann Mitte 60, der im Sonntagskreis seine grauenvolle Vergangenheit offenlegte, trat nach der Tat aus der katholischen Kirche aus, angewidert, erschüttert. Erst seit wenigen Jahren ist er wieder Mitglied der katholischen Kirche. „Die Wahl von Papst Franziskus“, sagt er, „war der Grund dafür“

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