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Berlin: Katharina Albrech (Geb. 1946)

Eines Abends setzte sie sich zu ihm und sagte leise: „Ich gehe.“

Die Leute drängten und schoben. Die Band stand schon auf der Bühne, der Gitarrist spielte ein kurzes Riff, der Typ hinter Helmut fuchtelte mit den Armen in der Luft und rammte ihm dabei seinen Ellbogen ins Kreuz, Helmut taumelte einen Schritt nach vorn und sah dann nur noch dieses Rot. In dichten weichen Wellen floss das rote Haar ihren Rücken hinab. Die Band legte jetzt los, die Leute stampften mit den Füßen, der Sänger bettelte „I wanna be your man“, das Rot vor Helmuts Gesicht flog hin und her, er atmete den Geruch von Jasmin und Vanille.

Zwei Monate später lief er den Ostseestrand entlang. „Was machst du denn hier?“, rief eine Stimme. Eine Gruppe Kommilitonen aus Berlin hockte nackt im Sand. Helmut setzte sich in Hemd und Hose dazu. Er drehte den Kopf. Und da saß sie, etwas abseits, den Rücken gerade, den Kopf zum Himmel gewandt, die Haare wie mit Kupfer bestäubt. „Katharina“, stellte sie einer der Jungs vor. Sie nickte ihm kurz zu, er errötete und klopfte sich umständlich den Sand von den Hosen. „Frierst du?“, fragte Katharina. Und dann mussten sie lachen.

Er hatte das nie verstanden. Sie konnte stundenlang in der Sonne sein, ohne dass ihre helle Haut verbrannte. Diese Haut, die er nie müde wurde zu liebkosen, besonders die kleine Ansammlung von Sommersprossen an der linken Schläfe, über die sie unglücklich war, und auf die sie Puder tupfte. Oft kam er sich neben ihr vor wie ein grober Klotz, der studierte, Maschinen auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, während sie mit ihren blassen Fingern zierliche Blütenblätter unter Mikroskope schob und lange betrachtete. Schon als Mädchen hatte sie, wenn man sie fragte, was sie später einmal werden wolle, mit fester Stimme „Biologin“ gesagt. Sie war in die Bibliothek gelaufen, hatte sich Botanische Atlanten ausgeliehen und mit beachtlichem Geschick daraus Pflanzen abgemalt. Auf sonntäglichen Spaziergängen im Grünen schlurfte sie nie träge hinter ihren Eltern her, sie sprang immer voraus, bückte sich alle paar Meter, um eine bemerkenswerte Blume zu pflücken, die sie zu Hause pressen wollte. Sie hatte Kisten mit Erde gefüllt, vorsichtig einzelne Samen in vorbereitete Löcher gelegt (auch in ihren reifen Frauenjahren waren die Ränder unter ihren Fingernägeln oft dunkel, was Helmut erstaunlich fand), Stöckchen mit beschrifteten Zetteln daran in jede Reihe gesteckt und dann geduldig gewartet, bis die ersten Keime hervorbrachen.

„Aber ein ätherisches Wesen, nein, das war sie trotzdem nicht“, sagt Helmut. Er war jedes Mal verblüfft, wenn er sie tanzen sah, ihr Kopf, der sich rhythmisch im stampfenden Beat bewegte, ihre Haare, die durch die Luft flogen. Sie konnte trinken und schwankte auch nach dem zehnten Glas nicht. Sie konnte rauchen und ihre Haut blieb ohne einen Schatten.

Sie waren ein Paar, auch wenn sie nicht zusammenzogen. Eines Abends setzte sie sich an seinen Küchentisch und sagte leise: „Ich gehe.“ Sie verließ nicht eigentlich ihn, sie verließ das enge Land. Er hatte nicht gewusst, dass sie einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Jetzt war er bewilligt worden.

Katharina nahm kaum etwas mit, einige Bücher über Pflanzen, die gepressten Blumen aus Kindertagen. Irgendwer erzählte ihm irgendwann, sie sei nach Italien gegangen, arbeite dort in einem botanischen Institut.

Im Winter vor zwei Jahren saß Helmut in einem Café. Die Tür öffnete sich. Herein kam eine Frau, gehüllt in einen weiten Mantel, die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen.

Sie erkannten sich sofort. Katharina zog die Mütze vom Kopf und entblößte ihre kurzen grauen Haare. Helmut hätte diese Haare gern berührt.

Sie sprachen, sie lachten, sie tranken ein Glas Wein. Und dann musste sie los. Wir bleiben in Kontakt, rief sie ihm zu und verschwand durch die Tür. Vor drei Monaten erfuhr er, dass sie gestorben ist. Tatjana Wulfert

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