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Schau mir in die Augen. Und schon weiß man, warum dieses Tier aus der Zucht von Karl-Heinz Heitz ein Hermelin Blau ist.

© Thilo Rückeis

Kaninchen in Berlin: Der Züchter: Das Raubtier im Hasenstall

Januar 2015: Der Papst sagt, Katholiken müssten sich nicht vermehren "wie Karnickel". Bereits im Frühjahr 2013 recherchierte Lucas Vogelsang, wie Berliner Kaninchen und ihre Züchter wirklich ticken. Lesen Sie hier seine Reportage!

Wir müssen auch unbedingt etwas über Kaninchenzüchter machen. Es ist ein Satz, von dem ich nicht mehr gedacht habe, dass ich ihn jemals hören würde. Nicht hier, er passt nicht nach Berlin, wo der Kaninchenzüchter, sein Nachrichtengehalt gering, bestenfalls Stadtranderscheinung, im medialen Wahrnehmungsschatten kauert. Verschwunden, vergessen hinter dem ständigen Rauschen aus S-Bahn-Pannen, Großbaustellen-Comedy und Piraten in Latzhosen. Es ist deshalb vielmehr ein Lokalzeitungssatz, mit dem im deutschen Journalismus viele Karrieren begonnen haben, weil der Bericht aus dem Kleintierkosmos hier zum Handwerk gehört. Schwarzbrot nennt das der Journalist. Eine Pflicht, von älteren Redakteuren, die vor Jahrzehnten ihrerseits von noch älteren Redakteuren zu Rammlerschauen in Turnhallen geschickt wurden, an Praktikanten und Volontäre weitergereicht. Und doch ist es mehr, die Suche nach dem Fremden im Naheliegenden. Henri Nannen, der Gründer des „Stern“, sagte einmal über seinen Freund, den Reporter Günter Dahl: „Er ist einer, der weiß, dass auf einem Quadratmeter Schrebergarten mehr Wunder zu erleben sind, als mancher Reporter auf einem Kontinent findet.“ Den Kaninchenzüchtern begegnet man genau dort, auf diesem einen Quadratmeter Schrebergarten. In einer Welt, seltsam vertraut und doch wundersam exotisch, in der Bräuche gepflegt und Traditionen aufrechterhalten werden. Warum das nicht auch mal, aus gegebenem Anlass, Ostern vor der Tür, in Berlin machen. Zu den Kaninchenzüchtern gehen, die es natürlich auch hier gibt, weil diese Stadt ja viel dörflicher, jägerzäuniger ist, als sich das viele gemeinhin eingestehen möchten. Also kam dieser Satz doch noch zu mir. Klarer Auftrag: Folge dem Kaninchen, lass dich kopfüber fallen, hinein ins Wunderland. Es beginnt außerhalb des S-Bahnrings. Charlottenburg, fast schon Spandau. Wer sich als Ahnungsloser Zutritt verschaffen will zu einem Raum voller Fremder, braucht einen, der die Tür aufhält. Karl-Heinz Heitz, 66 Jahre alt, ist dieser Jemand. Selbst auch Züchter, kümmert er sich als Vorsitzender des Landesverbandes Berlin-Mark Brandenburg vor allem um die Verwaltung. Gute, alte Bürokratie, sagt er. In einer Welt aus Zucht und Ordnung ist Karl-Heinz Heitz die Ordnung.

Ein Mann und sein Hase. Karl-Heinz Heitz züchtet unter anderem die Rasse Kleinsilber, graubraun.
Ein Mann und sein Hase. Karl-Heinz Heitz züchtet unter anderem die Rasse Kleinsilber, graubraun.

© Thilo Rückeis

Er, Rentner, die Kinder lange aus dem Haus, hat gerade etwas mehr Zeit als sonst. In seinem Stall ist noch Winterpause, die Nester sind leer. Heitz züchtet Hermelin Blauaugen, die haben zu dieser Jahreszeit noch nicht geworfen. Beste Voraussetzungen, um mal ein paar grundlegende Dinge zu klären: Warum machen Sie das eigentlich, Herr Heitz? Leichtes Kopfwiegen. Ja, warum eigentlich. „Jeder Züchter kommt ja anders zum Tier“, sagt er. Bei ihm war es die Tochter, das Kaninchen ein Geschenk. Eine Überraschung. „Damit fing es an. Da war erst eines da, dann waren es zwei. Und dann ist das alles aus dem Ruder gelaufen.“ Heitz lacht. Und erinnert sich an seine erste Sitzung, als er, der nie in einen Verein wollte, obwohl schon seine Großmutter Züchterin gewesen war, plötzlich mittendrin war. „Mein erster Gedanke war: Wo bin ich hier nur hingeraten? Das war nicht meine Welt.“ Nach dem Ende der Versammlung fuhr er sofort nach Hause zu seiner Frau, zeigte ihr, sich, dieser Welt den Vogel, ging schlafen, war sich sicher: Da gehe ich nie wieder hin, und ging natürlich wieder hin – und fand sich nach und nach besser zurecht in einer Welt, die sich ihrerseits veränderte. „Früher wurde viel mehr gesoffen“, erzählt Heitz jetzt, „wenn ich allein in meine alten Unterlagen schaue, da gab es Sitzungen, die wurden um 22 Uhr geschlossen und um ein Uhr nachts wieder eröffnet, weil irgendjemand festgestellt hatte, dass der erste Vorsitzende nicht mittrinkt. Da haben sie ihn abgewählt.“ Kann man sich ja ganz gut vorstellen, die klassische Vereinsmeierei, zu der die Satzung genauso gehört wie das Herrengedeck danach. Mit dem Kaninchen als Legitimation für den geordneten Vollrausch. Geselligkeit, sagen dann jene, die dabei waren, und wischen sich mit dem Hemdsärmel über den Volksmund. Lange her. „Heute steht das Kaninchen im Vordergrund. Die Hege und Pflege des Tieres.“ Und der Wettbewerbsgedanke, die Schauen, die Preise: „Da möchte man schon vorne mit dabei sein.“ Verständlich. Und wie weit ist er, Karl-Heinz Heitz, vorn mit dabei? Er lächelt. „Na, eigentlich nicht so.“ Für ihn ist das dann doch mehr Zeitvertreib. „Wenn Sie über die Zucht sprechen wollen, müssen Sie nach Rudow fahren, zu Manfred Möglich“, sagt er deshalb nun. „Der kann Ihnen da was erzählen.“

Ein Nutztier, der Volksmund sagte "Kuhhase"

Wie die Karnickel! Die Vermehrung unterliegt bei Qualitätszüchtungen wie Manfred Möglichs Kleinchinchillas allerdings strengen Regeln.
Wie die Karnickel! Die Vermehrung unterliegt bei Qualitätszüchtungen wie Manfred Möglichs Kleinchinchillas allerdings strengen Regeln.

© Thilo Rückeis

Also raus nach Rudow. Hier, hinter den Einfamilienhäusern, hört Berlin einfach auf, geht über in Wald und Wiesen, Oberlandleitungen nach Brandenburg. Vorsicht vor dem Hund. Freitag Müllabfuhr. Kaninchenzüchterland. Hat man sich genau so vorgestellt. Manfred Möglich öffnet die Tür. Herzlich willkommen. Schuhe noch mal abtreten, danke. Im Wohnzimmer hat Frau Möglich die Kaffeetafel gedeckt. Bienenstich, Tetrapak-Sahne. Wir setzen uns in ein aufgeräumtes Leben. Auf dem massiven Wohnzimmerschrank gegenüber der Couchgarnitur stehen, sauber nebeneinander, Pokale in verschiedensten Größen. Souvenirs einer langen Karriere. „Ja“, sagt Möglich, Trophäenblick, „ein bisschen was kann ich.“ Manfred Möglich ist Spitzenzüchter in der Rasse der Kleinchinchilla, was nichts anderes bedeutet, als dass er hier, mit seiner Zucht, seit Jahren ganz vorne dabei ist. Ein Titelsammler. Zweifacher Gewinner des Buschkowskypreises, den Neuköllner Bezirksbürgermeister kennt er persönlich. Ein guter Mann. Zuletzt wurde Möglich im Dezember 2012 Landesverbandsmeister. Er, geboren 1943, macht das mit den Rammlern und Häsinnen, wie die Züchter Männlein und Weiblein nennen, jetzt seit fast 58 Jahren. Im April 1955 ist er in einen Kaninchenzüchterverein eingetreten. Noch als Piepelchen, sagt Möglich, Westberliner durch und durch. Er ist da reingewachsen. Der Vater kam vom Land und der junge Möglich, West-Berliner Piepelchen, verbrachte seine Sommerferien, damals noch acht Wochen lang, jedes Jahr bei der Großmutter in Oberhessen. „Die hatten da paar Schweine, Kühe, Pipapo.“ Und weil der Großvater mütterlicherseits einen Garten in Schmargendorf besaß, paar Hühner, paar Kaninchen, Pipapo, war er eben immer nah am Tier. Jetzt ist er Rentner. Und die Kaninchen sind immer noch da. Sie stehen draußen im Garten, man kann die Stallung vom Wohnzimmer aus sehen. Und weil Möglich nun schon so lange dabei ist, hat er auch den Wandel der Kaninchenzucht und ihrer Bedeutung miterlebt. „Wir züchten heute auf Schönheit, nicht mehr auf Leistung. Also schreiben Sie mir nicht irgendetwas von Kaninchen und Fleischproduktion. Das können Sie vergessen.“

Züchterikone. Manfred Möglich hat mit seinen Kleinchinchillas schon diverse Preise gewonnen.
Züchterikone. Manfred Möglich hat mit seinen Kleinchinchillas schon diverse Preise gewonnen.

© Thilo Rückeis

Damit das alles seine Richtigkeit hat, gibt es vom ehemaligen Sonderschullehrer Möglich dann auch gleich, Obacht Diktat, den kurzen historischen Abriss zur Kaninchenzucht, der im Grunde nichts anderes ist als eine deutsche Geschichtsstunde. Weil die Kaninchen, 1871 mit den Kriegsheimkehrern aus Frankreich nach Deutschland gekommen, schon da waren, als Möglichs Großvater selbst noch ein Kind war. Nutztiere vor allem, Kuhhasen im Volksmund. Das Fleisch gegen den Hunger, das Fell gegen die Kälte. Sie bewohnten die Weimarer Republik, sahen den Krieg heraufziehen. So heißt es auch in einem Schreiben des Reichsverbandes deutscher Kaninchenzüchter aus dem Jahre 1934: „Unsere nationalsozialistische Regierung hat den volkswirtschaftlichen Wert der Kaninchenzucht erkannt und diese in den Reichsnährstand eingegliedert. Wir Kaninchenzüchter sind deshalb dazu berufen, an der Ernährung unseres deutschen Volkes mitzuarbeiten.“ Deutschland erhob sich, Deutschland zerfiel. Die Kaninchen blieben. Denn vor allem nach dem Krieg, die Not am größten, war das Kaninchen im Hinterhof ein Segen, wie sich Möglich, Kindheit in Wilmersdorfer Trümmern, erinnert: „1945 bis 1960 machte das Sinn.“ Mit den Wirtschaftswunderjahren aber verschob sich, zumindest im Westen, die Sicht auf die Kaninchen, Deutschland rauchte nun Zigarre, Deutschland fuhr an die Adria und die Zucht wurde zum Hobby. Im Grunde kann man die Veränderung der Bundesrepublik und Westberlins in den vergangenen 50 Jahren anhand des Verhältnisses der Deutschen zum Kaninchen ablesen. „Das Bild des Kaninchenzüchters ist deshalb heute, große Gemütlichkeit in den Vorgärten der Wohlstandsgesellschaft, längst das eines eigenwilligen Spinners, der, rückwärtsgewandt, eine Idylle zelebriert, die besonders in einer Stadt wie Berlin ganz und gar wider die Zeit wirkt. Das weiß auch Möglich, er kennt ja die Witze. „Wir werden verlacht von oben und unten. Von Politikern und Fußballtrainern. Da heißt es dann immer, man sei ja nicht bei den Kaninchenzüchtern.“ Der Kaninchenzüchter, eine Lächerlichkeit. Na und, Schulterzucken bei Möglich: „Der Wunsch, diese Tiere zu haben, war immer stärker als der Gedanke an irgendwelche Blödmänner, die mich auslachen könnten.“ Für die Kaninchenzucht an sich aber ist diese öffentliche Wahrnehmung zum Problem geworden. Denn während bei Möglich draußen im Licht des Märznachmittags zwei neue Würfe in ihrem Nest liegen, ein Dutzend Jungtiere, sorgt sich der Verband um den eigenen Nachwuchs. Und Möglich sorgt sich mit: „Wenn überhaupt welche nachkommen, sind es rüstige Rentner. Die haben Zeit, vielleicht noch ein Stück Land.“ Die Kinder aber verbringen ihre freie Zeit heute anders. Ein Kaninchen ist eben keine Playstation, sagen die Züchter, das kann man nicht einfach in die Ecke legen, wenn man keine Lust mehr hat.

"Der muss weg, der wird entsorgt!"

Kaninchenzucht ist aber eben auch der Zeitvertreib der ganz kleinen Leute. Zumindest das hat sich gehalten seit dem Krieg. „Wir müssten mal wieder etwas tun, um in der Anerkennung, in der Wahrnehmung nach oben zu kommen“, sagt Möglich, zeichnet dann, Handfläche über Handfläche vor dem Körper, die Hierarchie der Tierzüchter in die Luft. Unterhalb der Brust sie selbst, die Kaninchen, darüber die Hühner, dann, vor dem Gesicht, Katzen und Hunde, und schließlich, oberhalb des Kopfes, die Pferde. So ist das. Und klar, wir sprechen hier eben auch nicht von Menschen, die ihren Töchtern das Pony auf die Weide stellen. Oder wie sagte Dostojewski: „Aus hundert Kaninchen wird noch lange kein Pferd.“ Stimmt, da muss Möglich jetzt doch lachen. Aber Pferde interessieren ihn ohnehin nicht. Er steht auf, holt seine Jacke, will jetzt mal zeigen, worüber bisher nur gesprochen wurde. Die Schönheit der Tiere. Schließlich ist es das, was am Ende zählt. Dafür macht er es ja.

"Der muss weg, der wird entsorgt" Draußen in der Stallung: saubere Ordnung. Klare Geschlechtertrennung. In den Buchten auf der linken Seite die Rammler, auf der rechten die Häsinnen und ihre Jungen. Möglich öffnet eine der Drahttüren, dahinter drei Jungtiere. In meinen, den Laienaugen sind sie nicht voneinander zu unterscheiden. Verdammt niedliche, graue Kaninchen. Möglich aber packt eines der Tiere und hält es in die Luft. „Siehste“, sagt er. Ich sehe gar nichts. „Eben“, sagt er, „deshalb bin ich erfolgreich, weil ich Dinge sehe, die kein anderer sieht.“ Er zeigt auf die Nase des Kaninchens. Darauf ein winziger weißer Fleck. Niedlich eben. Für den Züchter Möglich aber ein Störfall, ein böser, ganz böser Fehler. „Der muss weg“, sagt er, „der wird entsorgt.“ Zeigefinger an der eigenen Kehle entlang, erklärt dann, warum: „Die weiße Nasenschnippe bedeutet, er vererbt eine weiße Kralle, meine aber müssen dunkelbraune Krallen haben.“ Für Ausstellungen und die weitere Zucht ist das Tier damit unbrauchbar, gut genug vielleicht noch als Geschenk für ein Kind aus der Nachbarschaft. Die Häsin wird den nächsten Winter auf keinen Fall erleben. Zu gering ihre Saugleistung. Züchtung bedeutet hier nichts anderes als gezielte Fehlervermeidung. Selektion, Kontrolle des Erbguts, Optimierung des Zuchtstands. Nur so lässt sich später auf den Schauen der Höchstwert erreichen. 100 Punkte vergeben die Preisrichter im besten Fall. Züchter wie Möglich nehmen nichts unter 95, schließlich geht es darum, V-Tiere, also vorzügliche Tiere, zu züchten. Das ist ihr Gütesiegel. Falsche Krallenfarben oder Macken im Fell werden hingegen mit dem Kürzel „nb“ bedacht. Nicht befriedigend. Schmach für den Züchter, Todesurteil für das Tier. Schluss und weg. Darwinismus in Reinkultur, Überleben des Schöneren, von Menschenhand gesteuert. Das Raubtier im Stall muss der Züchter sein, heißt es. Oder, wie Möglich es sagt: „Der Fuchs bin ich.“

Das Schlachten gehört zum Züchten. Möglich macht das auf seine Art, andere können da gerne mit dem Bolzenschussgerät arbeiten, ihm ist das zu unsicher. Da bleibt der Bolzen am Ende noch zwischen den Hirnhälften stecken und das Tier quält sich unnötig. Er schlachtet seit jeher mit Zimmermannshammer und Messer. Dabei hält er das Eisen des Hammers in der Hand und schlägt den Stiel, gezielt in das Genick des Kaninchens. „Dieser Betäubungsschlag muss sitzen“, sagt Möglich, „aber das macht man nicht gern, ich kann mich daran nicht erfreuen.“ Danach schneidet er dem Tier die Kehle durch und lässt es ausbluten. Meist kommt es hinterher in die Truhe. Feinstes Diätfleisch, sagt Frau Möglich, die sonst eher nicht so viel sagt. Das Hobby ihres Mannes duldet sie mit dem Gleichmut aus 38 Jahren Ehe. Sie hat sich damit arrangiert, ist, wie viele Züchterfrauen, Mitglied in einer der Handarbeits- und Kreativgruppen, in denen früher, als sie noch Frauengruppen hießen, alles rund um das Kaninchen verarbeitet wurde. Als wir wieder im Wohnzimmer sitzen, Frau Möglich setzt noch einmal Kaffee auf, will ich von Manfred Möglich wissen, ob die Kaninchenzucht eigentlich eher ein Männerding ist. Er nickt. Wir sprechen jetzt im Flüsterton, weil man das so macht unter Männern, die über Männerdinge sprechen. „Das ist ja auch körperliche Arbeit. Wie soll denn die Frau den Ballen Torf packen. Oder töten. Das geht doch gar nicht.“ Er richtet sich auf, ein Mensch als Ausrufezeichen. „Natürlich gibt es auch Frauen, die züchten. Aber das ist die Ausnahme, da ist der Mann meist noch dabei. Also zwei Rassen. Und wenn es an die schweren Arbeiten geht, ist er es, der den Schubkarren schiebt.“ Frau Möglich kommt zurück, mit frischem Kaffee, es gibt noch ein Stück Bienenstich. Hinter den Terrassenfenstern legt sich Stille über die Stille.

"Filzärsche" nannten die aus dem Westen die Tiere aus dem Osten

Weiß wie der Schnee. Auch die Angoras von Rita Knappe aus Wartenberg haben schon diverse Preise gewonnen.
Weiß wie der Schnee. Auch die Angoras von Rita Knappe aus Wartenberg haben schon diverse Preise gewonnen.

© Thilo Rückeis

Am darauffolgenden Morgen stehe ich in Wartenberg, Dorfstraße, im Stall von Rita Knappe. Sie züchtet Angorakaninchen, Albinos, deren rote Augen unter dem Schneeweiß des Kopfbehangs hervorglimmen. Rita Knappe, 61 Jahre alt, ist die Ausnahme, von der Manfred Möglich gesprochen hat. Eine Frau, die züchtet. Und noch dazu erfolgreich. Sie ist 2006 Europameisterin in ihrer Angoraklasse geworden und hat es vor einiger Zeit auf einer Bundesschau mit allen acht ausgestellten Tieren in die Vorzüglich-Wertung geschafft. Davon allein vier Mal mit der Weltklasse-Wertung 97,5. Die beste Leistung, die jemals auf einer Bundesschau gezeigt wurde. Crème de la Crème, würde Manfred Möglich dazu sagen. Rita Knappe sagt: „Ich achte auf Körperbau und Wolldichte.“ Ihr, in Mecklenburg geboren, die Heimat noch gut hörbar in der Stimme, ist diese nordische Zurückhaltung zu eigen. Wenn sie spricht, dann über die Kaninchen, die sie, das Mädchen vom Land, nun auch schon seit 1984 hat. Ist damals, mit ihrem Mann, der in den Buchten weiter hinten seine Holländer, schwarz-weiß, züchtet, und den Söhnen in den Verein gegangen. „Als es um den Eintritt ging“, erinnert sie sich, „habe ich gesagt, meinetwegen, aber wenn ich hier mitmache, dann nur, wenn ich Angorakaninchen bekomme.“ Die bekam sie.

Arm in Arm. Rita Knappe mit einem ihrer Angorakaninchen.
Arm in Arm. Rita Knappe mit einem ihrer Angorakaninchen.

© Thilo Rückeis

Und wurde schnell erfolgreicher als der Mann, die eigenen Söhne. „Aber das stimmt schon“, sagt sie, als ich sie auf das Männerding, die Kaninchenzucht als Patriarchat, anspreche. Sie hat dafür ihre eigene Erklärung: die Wende. „Ich kann nur sagen, wir hatten früher, was heißt früher, also zu Ostzeiten, bei uns im Gebiet mehr weibliche Züchter.“ So beginnt sie zu erzählen, von früher, also den Ostzeiten, in denen es hier, DDR, keine Handarbeitsgruppen gab, die Frauen deshalb alle mitgezüchtet haben. „Das ist ja kein Männerding, weil wir das nicht können. Ich hole auch das Futter ran, fahre den Mist hoch.“ Sie überlegt, als müsste sie sich die Worte vorsichtig zurechtlegen, sagt dann: „Das hat mit den Strukturen zu tun. Da, im Westen ist das so, bei uns nicht, ich sage mal, wir sind das Arbeiten gewohnt.“ Das lässt sie so stehen, es ist ihr Teil der Kaninchenzuchtgeschichte, Erinnerungen an einen Staat der Arbeiterinnen, der Bäuerinnen. „Das hier ist ja auch anders als drüben in Rudow bei Möglich“, sagt Rita Knappe nun, „das können Sie gar nicht vergleichen. Das da, wo er wohnt, war ja immer noch Stadt, wir hier haben immer schon ländlicher gelebt. Hier halten die Leute noch mehr zusammen.“

Ein Hobby für die ganze Familie. Rita Knappes Mann Manfred züchtet schwarz-weiße Holländer.
Ein Hobby für die ganze Familie. Rita Knappes Mann Manfred züchtet schwarz-weiße Holländer.

© Thilo Rückeis

Ihr Mann, der sich bis jetzt um seine Tiere gekümmert hat, hört sich das an, nickt zustimmend: „Zu DDR-Zeiten hatte die Zucht aber auch eine ganz andere Bedeutung.“ Im Mangel des realen Sozialismus war das Kaninchen viel länger als im Westen eine wirtschaftliche Komponente, hatte der Züchter eine klare Aufgabe: „Man musste abliefern.“ Fleisch und Wolle. Dafür gab es Geld oder Futterscheine. Zu jener Zeit ist Rita Knappe ihre Wolle, alle 85 Tage liefert jedes Tier bei der Scherung bis zu 500 Gramm, noch losgeworden. Nun aber lagert sie, in großen Plastiksäcken, in leeren Buchten. Der Mauerfall hat auch ihre Kaninchenwirklichkeit verändert. Das Gespräch entfernt sich deshalb nun, nachdem wir die Stallung verlassen und uns oben ins Wohnzimmer gesetzt haben, mit einem Mal von den Tieren und wird zur Aufarbeitung der Wiedervereinigung im Kleinen. Ein ganzes Land in einem Stall. „Nach der Wende standen viele im Westen auf dem Standpunkt, dass wir im Osten Jahre brauchen würden, um dort hinzukommen, wo die angeblich schon waren.“ Wieder Ehemannnicken, drüben hielt man einfach nicht viel von den Tieren aus der ehemaligen DDR, die Angorakaninchen galten, hinter vorgehaltener Hand, als Filzärsche, Tiere minderer Qualität: „Im Westen gab es da Figuren, die nicht wahrhaben wollten, dass hier auch etwas passiert war.“ Seine Augen wandern durch den Raum, auch hier Couchgarnitur, auch hier Trophäen. Messingbecher auf der Anrichte, Teller an der Wand. „Den Standpunkt vertraten sie mit Vehemenz, wir im Osten zählten nichts“, sagt Rita Knappe. „Und was war?“ Triumph jetzt in der mecklenburgischen Stimme: „Bei der ersten Bundesschau nach der Wende habe ich den Bundesmeister gemacht.“ 1995 war das. Das hatten vorher vielleicht fünfe geschafft. „Aus Berlin“, sagt Rita Knappe. Und wenn sie jetzt Berlin sagt, meint sie noch immer Westberlin.

Noch mümmeln sie. Doch Nachwuchsmangel ist unter Kaninchenzüchtern immer wieder Thema.
Noch mümmeln sie. Doch Nachwuchsmangel ist unter Kaninchenzüchtern immer wieder Thema.

© Thilo Rückeis

Die Wende und ihre Spannungen, das Knirschen der Übergangszeit, als plötzlich zusammengehören musste, was zusammengehört, hat sich besonders in den kleinen Verwerfungen offenbart und lässt sich deshalb auch entlang der Wiedervereinigung der Kaninchen erzählen, dem Zusammenschluss des westdeutschen Zentralverbands Deutscher Kaninchenzüchter e. V. mit dem mitteldeutschen Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter. An der Demarkationslinie voller Filzärsche und Minderwertigkeitskomplexe. Auch dort standen sie auf beiden Seiten, Ost und West, und wussten mit dem jeweils anderen erst mal nicht viel anzufangen. „Andere Landesverbände haben das nicht so gemerkt, aber wir haben durch Westberlin gleich eine Konfrontation gehabt. Die Nachwendejahre waren da sehr anstrengend.“ Es dauerte einige Zeit, dann legte sich auch das. Und Rita Knappe hat mit jedem Vorzüglich ihrer Tiere ein Stück dazu beigetragen. Findet ihr Mann: „Als sie das siebte Mal den deutschen Meister gemacht hat, war dann auch die Achtung da.“ Mittlerweile verstehen sie sich gut, Ost und West. Eine Stadt. „Wir würden jederzeit einen Kaffee zusammen trinken“, sagt Rita Knappe schließlich. Vielleicht ja auch im Westen, in Rudow. Die haben da einen ganz hervorragenden Bienenstich. Dann verabschiede ich mich. Und verlasse das Wunderland, die Kaninchen, eine Welt, in der, obwohl sich ihr Kern, die Bedeutung des Tiers, vom Lebensmittel zur Liebhaberei, gewandelt hat, Deutschland an vielen Stellen noch ist, wie Deutschland einmal war, als sich noch niemand vorstellen konnte, dass es einmal ganz anders sein würde. Die Hierarchien, die Rollenbilder, die Weltanschauung. Mann und Frau, Ost und West. Zucht und Ordnung. Vorzüglich. Wie richtig gutes Schwarzbrot.

Dieser Text erschien erstmals gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin am 30. März 2013.

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