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Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte Stephan von Dassel (Grüne).

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Update

Kampfkandidatur bei den Berliner Grünen: Wird von Dassel Bezirksbürgermeister von Mitte bleiben?

Stephan von Dassel will Bezirksbürgermeister von Mitte bleiben. Parteikollege Tilo Siewer fordert ihn heraus. Die Partei streitet derweil über den Wahlprozess.

Es dürfte heiß hergehen am kommenden Samstag auf der Tribüne des Poststadions in Berlin-Moabit, selbst wenn der Wetterbericht aktuell frische 13 Grad Celsius und Schauer voraussagt.

Verantwortlich dafür sind ausnahmsweise nicht die Spieler des Fußball-Regionalligisten Berliner AK, sie kicken erst am Tag darauf, sondern die Wahl- und Mitgliederversammlung der Grünen in Mitte.

Coronabedingt findet das Treffen des mit mehr als 1600 Mitgliedern nach Friedrichshain-Kreuzberg zweitgrößten Bezirksverbands der Hauptstadt-Grünen an der frischen Luft statt. Gut möglich, dass angesichts der anstehenden Wahlen und der im Vorfeld aufkommenden Unruhe innerhalb des Verbands der ein oder andere eine Abkühlung zwischendrin gut gebrauchen kann.

Denn: Streitpunkte gibt es einige. Da ist die Ansetzung des Treffens an sich. Anders als zu Jahresbeginn geplant, soll die Wahl des Bezirksbürgermeister-Kandidaten und damit die Entscheidung zwischen Amtsinhaber Stephan von Dassel und Herausforderer Tilo Siewer nicht zeitgleich mit der Abstimmung über die Kandidaten für Bezirksverordnetenversammlung (BVV) über die Bühne gehen.

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Das war bislang so üblich und hätte - laut der Absprachen im Frühjahr - auch wieder so passieren sollen, genauer im Februar oder März 2021. Dass das Verfahren geändert und darüber hinaus auch die Wahl der Direktkandidaten für die Abgeordnetenhauswahlkreise 1 bis 7 in Mitte, von denen sechs als aussichtsreich gelten, am Samstag über die Bühne gehen sollen, bezeichnen Verteidiger des Vorgehens als „Entzerrung des Verfahrens“. Andere kritisieren genau das und wähnen einen „Deal“.

Der Bezirksverordnete Tilo Siewer.
Der Bezirksverordnete Tilo Siewer.

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Dieser sieht nach deren Darstellung so aus: Siewer, seit 2006 Mitglied der grünen BVV-Fraktion und aktuell deren Vorsitzender, gewinnt mit den Stimmen der den Bezirksverband traditionell dominierenden Realos sowie der Gruppe „Bunt-Grün“ die Kampfabstimmung gegen von Dassel.

Als Gegenleistung verzichten die sich speziell für die Belange von Menschen mit Migrationsgeschichte „Bunt-Grünen“ auf einen eigenen Bewerber für die Kandidatur auf das Direktmandat im Bundestagswahlkampf und unterstützt stattdessen die Kandidatin der Realos, Hanna Steinmüller.

Darüber hinaus sollen beide Gruppen die Direktmandate für die im kommenden Jahr ebenfalls anstehende Abgeordnetenhauswahl paritätisch untereinander aufgeteilt haben. Gegenkandidaturen sind so gut wie nicht zu erwarten und dort, wo sich zuletzt doch noch weitere Bewerber als die bislang feststehenden fanden, ist intern von „Schein-Kandidaturen“ die Rede.

Offiziell zu dieser Theorie äußern will sich niemand, auch nicht die im Fall der Fälle leer ausgehenden von Dassel oder Özcan Mutlu. Mutlu ist Gegenkandidat von Steinmüller im Rennen um das Bundestagsmandat. Auch Silke Gebel, Grünen-Fraktionschefin im Abgeordnetenhaus und designierte Nachfolgerin von Wirtschaftssenatorin Ramona Pop im Wahlkreis 1, schweigt offiziell zu den Vorgängen.

Die Verärgerung an der Basis jedoch ist groß. In internen Mails, die dem Tagesspiegel vorliegen, wird von einer Untergrabung der für die Grünen elementaren Basisdemokratie berichtet. Begründet wird der Vorwurf unter anderem damit, dass die Versammlung am Samstag zeitgleich zu einer vom Landesverband organisierten Programmkonferenz stattfindet. Die Mitglieder müssten sich für eine der beiden Veranstaltungen entscheiden, heißt es an der Basis.

„Persönliche Karrierewege sollen abgesichert werden“

Martin Beck, der für die Grünen von 2011 bis 2014 im Abgeordnetenhaus saß, erklärt in einer Mail: „Es macht den Eindruck, als sollten unter dem Deckmantel von Covid-19 schnell durch vorgezogene Wahlen persönliche Karrierewege abgesichert werden.“

Die innerparteiliche Demokratie werde „ausgehebelt“, das Vorgehen erinnere an „Gepflogenheiten mit uns konkurrierender Parteien“, schreibt er. Ein anderes Grünen-Mitglied geht einen Schritt weiter und erklärt: „Was da im Moment abläuft, ist CDU pur.“ Aus dem Gegenlager heißt es: „Politik ohne Machtpolitik gibt es nicht.“

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Die wohl härteste Auseinandersetzung liefern sich aktuell die beiden Kandidaten um den Bürgermeisterposten, Stephan von Dassel und Tilo Siewer. Weil ein direktes Aufeinandertreffen in Zeiten von Corona schwierig ist – ein Anfang September veranstaltetes „Speed-Dating“ im Park am Humboldthain wurde von Teilnehmern als „Propagandashow“ verunglimpft – trafen sich die beiden am Dienstagabend zu einem digitalen Schlagabtausch.

77 Zuhörer - vor allem Parteimitglieder - hatten sich per Webcam zugeschaltet und konnten Fragen stellen. Siewer attackierte von Dassel mehrfach, erklärte gleich zu Beginn: „Ich glaube, dass wir mehr erreichen können als in den vergangenen Jahren.“ Mit Blick auf den Politikstil seines Kontrahenten sagte Siewer: „Ich möchte Lösungen erarbeiten und keine Schlagzeilen produzieren.“

„Da muss ich manchmal lauter rufen, als es mir lieb ist“

Die Bilanz von Dassels bei der Verkehrswende nannte Siewer ein „Armutszeugnis“. Von Dassel wiederum, der sich in den eigenen Reihen unter anderem mit Äußerungen über „aggressive Obdachlose aus Mittel- und Osteuropa“ unbeliebt gemacht hatte, wies die Kritik zurück.

Manchmal müsse er eben andere Politiker aus Bundes- und Landesebene auf die Probleme im Bezirk aufmerksam machen. Auch beim Thema Obdachlosigkeit, womit der Bezirk seiner Ansicht nach allein gelassen werde. „Da muss ich manchmal lauter rufen, als es mir lieb ist“, sagte er.

Mit Blick auf die Unruhe innerhalb des eigenen Bezirksverbandes und seinen Herausforderer erklärte von Dassel im Nachgang der Veranstaltung: „Dafür, dass ausgerechnet Tilo Siewer in der Vergangenheit die verschiedenen Strömungen unserer Partei zusammengeführt und alle Interessen aufgegriffen hat, habe ich in den vergangenen zwei Jahren wenig Anhaltspunkte gesehen.“

Hinter vorgehaltener Hand sprechen andere Mitglieder des Bezirksverbands davon, dass Siewer selbst ein aufbrausender, in Extremsituationen gar cholerischer Verhandlungspartner sein könne. Überhaupt stören sich viele Frauen innerhalb des Bezirksverbandes daran, dass mit von Dassel und Siewer zwei „weiße Männer“ um den Posten des Bürgermeister-Kandidaten konkurrieren.

Mit welchem Spitzenmann die Grünen in Mitte in die Kommunalwahl gehen und wer am Ende tatsächlich für das Abgeordnetenhaus kandidiert, entscheidet sich am Samstag. Hört man sich in der Partei um, glauben einige, dass Siewer gute Chancen hat. Andere behaupten, wenn der vermeintliche Deal scheitert, „gibt es Tote und Verletzte“. Mit Blick auf den Wetterbericht dürfte die Gruppe jener, die tatsächlich entscheiden, klein sein.

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