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Berlin: Jutta Bürger (Geb. 1944)

"Ich bin doch schon erwachsen - irgendwie!"

Am liebsten trug sie Türkis, dazu ein Amulett: eine Hexe auf dem Besenstiel. So wirbelte Jutta fast drei Jahrzehnte als Tagesmutter und Erzieherin durch Kreuzberg. Ihre Art beeindruckte Kinder und Eltern. Sie verschickte liebevoll gestaltete Grußkarten und ließ die Leute wissen: Ich bin immer für euch da. Eins ihrer Kinder, als es längst kein Kind mehr war, hatte Schwierigkeiten mit den Seminararbeiten – Jutta war zur Stelle. Eins hatte einen Roman geschrieben – Jutta kam zur ersten Lesung, selbstverständlich. Jutta war Wahl-Oma, Nebenmutter, Freundin.

Dafür brauchte sie keine staatliche Anerkennung als Erzieherin. Derlei offiziöser Kram war ihr sowieso suspekt. Sie wollte keine Kindergartentante mit erhobenem Zeigefinger sein. Ihre Kinder sollten frei und selbstbestimmt aufwachsen, nicht von einer übergestülpten Angebotspädagogik erdrückt werden. Natürlich durften Juttas Kinder mitbestimmen. Wenn sie gemeinsam kochten, dann Gummibärchensuppe oder Schokoladenfondue, ob das den Eltern nun gefiel oder nicht. Hauptsache, den Kindern gefiel’s. Die vergötterten sie – aber dafür war der Lohn bescheiden. Über ihren Rentenbescheid hätte sie kotzen können.

Wer einen solchen Weg geht, weiß warum. Juttas Vergangenheit spielte eine große Rolle. Vieles von dem, was sie den Kindern vermitteln wollte, hatte sie selbst nämlich nie erfahren. Sie wollte es besser machen.

Als sie in Flensburg geboren wird, heißt die nationalsozialistische Erziehungsbibel „Die deutsche Mutter und ihr Kind“. Gefühlskälte und Bindungslosigkeit werden darin propagiert, die klassische Frauenrolle festgelegt. Genauso erziehen ihre Eltern sie. Jutta ist die einzige Tochter. Nach ihren Ideen und Vorstellungen fragt sie keiner. Liebe erfährt sie nicht. Dafür muss sie schon früh im Haushalt mittun und soll bei der Erziehung der drei jüngeren Brüder helfen.

Ihr geschehen Dinge, die hier nicht beschrieben werden sollen. Selbst gegenüber engsten Freunden wird sie später wenig über ihre verlorene Kindheit und Jugend sprechen. „Ich bin doch schon erwachsen – irgendwie!“ Hauptsache, den Kindern, mit denen sie zu tun hat, ergeht es besser.

In Münster studiert sie Germanistik und Publizistik, sie macht einen guten Abschluss und will Journalistin werden. Es kommt ganz anders. Im aufgewühlten West-Berlin der frühen Siebziger trifft sie Wolfgang, der sich als Diplom-Pädagoge und Therapeut für Kinder und Jugendliche engagiert. Wie er denen, die scheinbar schlechte Chancen im Leben haben, hilft, das imponiert ihr. Sie werden ein Paar fürs Leben – und bekommen keine eigenen Kinder.

Wer die Gesellschaft ändern will, muss bei der Erziehung der Jüngsten anfangen; da sind sie sich einig, die antiautoritäre Kinderladenbewegung ist der Impuls. Was Jutta für ihre Arbeit braucht, bringt sie sich selbst bei, sie liest viel, sie arbeitet viel, als Tagesmutter jetzt.

Aber was verdient schon jemand, der als Eisbär den Kindern in Pinguinkostümen hinterherrobbt und danach mit den Eltern über Demos, Koch- und Putzpläne diskutiert? 1988 wechselt sie in eine staatliche Großpflegestelle und ist von nun an abhängig von einer examinierten Erzieherin. Sie heißt Doris und wird zur Freundin. Die beiden teilen sich eine Stelle und bleiben mehr als zehn Jahre ein eingespieltes Team. Warum sollte sie sich jetzt selbst noch einer Ausbildung und irgendwelchen staatlichen Prüfungen unterziehen? Wolfgang, ihr Freund, fände es richtig, man kann sich doch weiterentwickeln – umsonst. Wie überhaupt vieles, was er rät, an ihr abprallt.

Mit den Jahren gibt es immer mehr Menschen, die sie ins Leben geleitet hat, mit denen sie Kontakt halten möchte, um die sie sich kümmern will. Es ist anstrengend, sie verausgabt sich, brennt aus. Ihr Körper reagiert mit Allergien und Bluthochdruck. Als Doris aus dem Job rausgeht, um Polizistin zu werden, verliert sie die Zuversicht. Wie soll sie mit jemand anderem auskommen? Sie landet in einer Hartz-IV-Maßnahme: Schularbeitenhilfe für türkische Mädchen. Noch einmal hängt sie sich rein, die Mädchen verehren sie. Für Außenstehende geht es da laut und anarchisch zu, es gibt Beschwerden.

Jutta zieht sich zurück, Wolfgang gibt ihr Halt. Sie stirbt an einem Blutsturz. Erik Steffen

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