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Mit allen Wasser gewaschen. Der Paritätische Berlin schrieb Geschichte, etwa mit der Spreedemo „SOS Berliner Jugend“ gegen Kürzungen in der Jugendhilfe 2003.

© Petra Engel

Update

Jubiläumsjahr in Corona-Zeiten für den Paritätischen in Berlin: Seit 70 Jahren systemrelevant

Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband in Berlin, der größte Dachverband sozialer Träger in der Stadt, beging sein Jubiläum - und hat viel vor.

Es gäbe so viel zu feiern. Eine Erfolgsgeschichte. In 70 Jahren ist eine Institution gewachsen, der wie Jahresringe all die gesellschaftlichen Veränderungen und sozialen Bewegungen Berlins eingeschrieben sind. Ein Verband, der aus Berlin nicht wegzudenken ist, in dem Toleranz, Offenheit und Vielfalt gelebt werden. „Ach, herrje“, seufzt die Geschäftsführerin Gabriele Schlimper, wenn sie an die vielen Veranstaltungen im Laufe dieses Jubiläumsjahres denkt, so sollte etwa in der Philharmonie die Gründung gefeiert werden, eigentlich. Wäre eine „wunderschöne Veranstaltung geworden“, ist sie sich sicher, aber in der Pandemie gibt es Wichtigeres. Auch den Blick nach vorn, auf die Zeiten nach Corona.

Vor allem für einen Berliner Wohlfahrtsverband, den größten Dachverband freier Träger in der Stadt, der mit seinen 770 eigenständigen Organisationen und Selbsthilfegruppen in der Coronakrise besonders gefordert ist, für hilfsbedürftige Menschen da zu sein. Systemrelevant seit 70 Jahren - das kann man so sagen. Das ist aber erst seit einigen Wochen den Menschen deutlich geworden. Jetzt in der Krise sieht man besonders genau, wie unverzichtbar der Paritätische, gegründet am 12. Mai vor sieben Jahrzehnten, und seine gemeinnützigen Mitgliedsorganisationen sind. Sie sei „total beeindruckt“, was die Mitglieder leisteten und dabei auf kreative Weise und in kürzester Zeit vieles organisiert hätten, lobt Gabriele Schlimper mit dem pragmatischen Blick, den sie in ihrer früheren 21-jährigen Tätigkeit als Krankenschwester erworben hat.

55000 Ehrenamtliche in Berlin

Hand in Hand engagieren sich in Berlin 55 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie 30 000 Ehrenamtliche - in der Kinder- und Jugendhilfe, den Hospizen, Pflegeheimen, Stadtteilzentren, der Obdachlosenhilfe, der interkulturellen Arbeit oder den Kindertagesstätten. Die Coronakrise ist deswegen – etwas Positives im Schrecklichen – auch eine Sternstunde der Zivilgesellschaft.

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Eigentlich ist es deshalb auch viel bedeutsamer, dass die Menschen derzeit auf ganz praktische Weise erfahren, wie unverzichtbar dieser Verband ist, als es jeder Festakt mit großen Worten je sein könnte. Man wünscht diesen Menschen, dass sie für den langjährigen Einsatz mal so richtig geehrt würden und einmal im Licht der öffentlichen Wahrnehmung stehen.

Erste Stunden. Gerhard Joppich war zu Beginn Vorsitzender, 1950 bis 1958.
Erste Stunden. Gerhard Joppich war zu Beginn Vorsitzender, 1950 bis 1958.

© Paritäter

Eigentlich war vor 70 Jahren überhaupt nicht die Gründung, sondern die Wiedergeburt nach dem Krieg. Denn die „Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Wohlfahrtseinrichtungen“ bestand schon seit 1924, bis sie 1933 durch die Nazis verboten wurde. Nicht konfessionelle Krankenhäuser und politisch unabhängige Vereine gründeten am 23. Mai 1950 den paritätischen Wohlfahrtsverband dann neu.

Selbsthilfe spielt große Rolle

Über die Jahrzehnte spiegelt sich vor allem in den später aufgenommenen Vereinen und Gruppen die gesellschaftliche Entwicklung. Wobei in den Anfangsjahren auch die eher rigiden und traditionellen Fürsorgevorstellungen der 50er Jahre bestimmend waren. So wurde die Selbsthilfeorganisation der Kriegsblinden 1952 wieder ausgeschlossen, weil sie nichts für die allgemeine Fürsorge täte. Und so nicht-konfessionell und politisch unabhängig der Verband auch sein wollte, gesellschaftlich konservativ war er in der politisch engen Mauerstadt West-Berlin allemal. Da taten sich auch die Paritäter in den Jahren der Studentenbewegung schwer, sich für die Kinderladen-Bewegung oder für die neuen Organisationen der Frauenbewegung zu öffnen.

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Anfangs rieben sich Mitglieder an den unterschiedlichen Lebensentwürfen der neuen sozialen Bewegungen, bis sie zum heute selbstverständlichen Teil der Paritätischen Wohlfahrtsverbands wurden. Es brauchte aber bissige und anhaltende Diskussionen, bis die Selbsthilfegruppen von Schwulen oder HIV-Erkrankten akzeptiert waren. Anfang der achtziger Jahre war es unvorstellbar, dass aus den Besetzern der Tempelhofer Ufa-Fabrik dereinst hoch respektierte Paritäter werden, die nicht nur in der Multi-Kulti-Kultur ihre Verdienste haben, sondern auch mit der freien Schule, Kindergarten und Nachbarschaftszentrum viel innovative Energie in den Verband brachten. „Mit diesen vielen Verbänden, die auch gegensätzliche Ideen haben, kann man nur existieren, wenn alle wissen, dass man Respekt hat vor den Meinungen und der Arbeit der anderen“, weiß Barbara John, die seit 2003 Vorsitzende des Verbands ist: „Man kann bei Themen unterschiedlicher Meinung sein - aber alle sitzen gemeinsam in einer Fachgruppe und müssen das irgendwie aushandeln und sich aushalten.“

"Flexibler, moderner, innovativer"

Na ja, nicht alles lief bestens – dafür sorgte 2010 etwa „Maserati-Harry“, der umtriebige Chef der Treberhilfe, der Sozialarbeit letztlich als private Goldgrube missverstand. Aus der Betreuung von Obdachlosen machte er ein umsatzrendite-orientiertes Unternehmen und spendierte sich 380 000 Euro Jahresgehalt und mietfreies Wohnen in einer Villa am See. Die Affäre beschäftigte Berlin, als bekannt wurde, dass er sich als Dienstfahrzeug einen 114 000 Euro teuren Maserati als gönnte. Da agierten die Paritäter zunächst unglücklich, bis sie die Treberhilfe e.V. ausschlossen. Seitdem, so erläutert Paritäter-Geschäftsführerin Gabriele Schlimper, gelten klare Compliance- und Kontrollregeln, die Grundbedingung für eine Aufnahme in den Verband sind.

Eine Ära endet, eine andere beginnt. 2003 löste Barbara John (l.) Christa-Maria Blankenburg als Vorstandsvorsitzende ab.
Eine Ära endet, eine andere beginnt. 2003 löste Barbara John (l.) Christa-Maria Blankenburg als Vorstandsvorsitzende ab.

© Eberhard Auriga

Der Paritätischen Verband wächst stetig; im vergangenen Jahr kamen 28 neue Organisationen hinzu. Sie treten einem Verband bei, der sich zwar nicht neu erfindet, aber unter der 2016 neu angetretenen Geschäftsführerin Gabriele Schlimper doch erheblich verändert, auch die eingefahrene Dienstleistungsfunktion einer Verbandsspitze ist überdacht. Das ist auch gut so und gewollt, findet Schlimper, die Debatten mag und kämpferisch sein kann. „Wir sind flexibler, mobiler und innovativer geworden“, fasst sie das zusammen, was sie „Sozialarbeit 2.0“ nennt. Dazu gehört, dass in Foren Mitglieder aus unterschiedlichen Bereichen jenseits der Leitplanken ihrer Arbeit themenübergreifend miteinander kommunizieren, um innovative Ansätze zu entwickeln und neue Netzwerke aufzubauen.

Digitale Plattformen haben viel verändert

Das geht bis zur Gründung einer Genossenschaft durch verschiedene Verbandsmitglieder, um in den Wohnungsbau einzusteigen. Verstärkt digitale Werkzeuge zu nutzen, um etwa bei behinderten Menschen die Betreuung und Kommunikation zu erleichtern, ist ein anderes Ziel. Über den Verband hinausschauen, gehört dazu - schließlich haben die digitalen Plattformen die Nachbarschaftsarbeit enorm verändert. Schauen, was andere anders machen, und davon lernen: Deswegen hat man sich bei Google umgeguckt und diskutiert Social Start ups wie betterplace und GoVolunteer. Durchaus selbstbewusst. „Wir sind keine Oldschool-Sozialbeamtenschaft“, sagt Schlimper, „von uns können auch die neuen Social-Startups noch was lernen“.

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