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Das Otto Lilienthal-Denkmal.

© Manfrad Thomas.

Jubiläum in Brandenburg: Wo die Menschheit das Fliegen lernte

Vor 125 Jahren gelang es Otto Lilienthal in Derwitz (Brandenburg), sich in die Lüfte zu erheben. Im Sommer wird das 125. Jubiläum gefeiert.

Am Anhalter Bahnhof in Berlin im Frühsommer 1891: Die Menschen warten auf den Regionalzug nach Brandenburg / Havel, der Bahnsteig ist gut gefüllt. Ein Passagier hat ein besonderes Gepäckstück dabei: Ein mit Leinentuch bespanntes, in mehrere Teile zerlegtes Holzgestell. Was er denn damit wolle, fragt der Schaffner. „Fliegen“, antwortet Otto Lilienthal vor 125 Jahren.

„Der Schaffner muss gedacht haben, Lilienthal spinnt“, sagt Gerd Schönefeld. Der gebürtige Derwitzer beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Lilienthal und dem Sommer 1891, der dem Ort mit damals etwa 340 Einwohnern zu weltweiter Berühmtheit verholfen hat. Lilienthals Onkel war damals Pfarrer in Derwitz. „Als Otto ihn besuchte, ist ihm die Abbruchkante der Berge direkt an der Bahnstrecke zwischen Werder und Groß Kreutz aufgefallen, die sich perfekt für Flugversuche eignete“, sagt Schönefeld.

Ein Teil des Bergrückens zwischen Derwitz und dem Nachbarort Krielow war bis 1846 für den Bau der Bahnstrecke abgetragen worden, Ergebnis war eine schroffe, fast rechtwinklige Kante. Ideal für Lilienthal, der bereits 1862 im Alter von 14 Jahren erste Flugversuche in seinem Heimatort, dem mecklenburgischen Anklam, unternommen hatte. „Er hat das immer gemeinsam mit seinem Bruder Gustav gemacht, im Dunkeln, damit ihn niemand in der Stadt für verrückt hält“, sagt Gerd Schönefeld. Lilienthal beginnt in Potsdam eine Ingenieursausbildung und gründet in Berlin eine Maschinenfabrik. In seinem Garten hält er vier Störche, deren Flugbewegungen er studiert und nach deren Vorbild er in Berlin mehrere Flugapparate baut.

Der erste Hangar der Welt

Nach vielen vergeblichen Flugversuchen baut er schließlich 1891 das Modell Nr. 3, mit dem er es laut Derwitzer Ortschronik vom 64 Meter hohen Berg erstmals in der Geschichte der Menschheit schafft, 30 Meter durch die Luft zu gleiten. Mit dabei war meist der Müller Hermann Schwach, der Lilienthal stets mit dem Pferdegespann vom Groß Kreutzer Bahnhof abholte und in dessen Scheune die in Berlin gebauten Fluggleiter lagerten. „Die Scheune war also der erste Hangar der Welt“, sagt Schönefeld. Den Abflugberg Lilienthals gibt es indes nicht mehr: Mit der Erde, auf der der wohl erste Flug der Menschheit startete, wurde ab 1904 der Bahndamm am Potsdamer Bahnhof Wildpark aufgeschüttet.

Der Flugplatz von Lilienthal.
Der Flugplatz von Lilienthal.

© Tsp/PM

Ein Gefühl für den ersten Flug bekommt man aber seit Mitte Januar in einer Halle des Derwitzer Gewerbegebietes, etwa zwei Kilometer Luftlinie vom damaligen Flugplatz entfernt: Dort hängt der Nachbau des Fliegers in Originalgröße, aus Weidenholz und Leinentuch – Spannweite: 7,40 Meter. „Eigentlich wollten wir das Modell in der Dorfkirche neben dem Lilienthalmuseum aufhängen, aber die Kirche ist zu klein“, sagt Ortsvorsteher Stephan Hübner (CDU).

Die Stadt Werder hat das Modell 2011 vom Erbauer, dem Lilienthal-Fan Norman Bernschneider aus Amberg (Bayern), gekauft. Zwar sind keine Konstruktionsskizzen erhalten, Bernschneider hat das Modell jedoch aus Fotos und bekannten Maßen rekonstruiert. Es lag das Modell auseinandergebaut in Lagerräumen, bis Hübner und ein knappes Dutzend andere Derwitzer aus Heimat- und Feuerwehrverein den Flieger in zwei Stunden wieder zusammensetzten. Sie wollten einen Eindruck davon bekommen, welche Dimensionen das Fluggerät eigentlich hatte. „Man muss schon lebensmüde gewesen sein, um sich in diese wackelige Konstruktion zu setzen“, sagt Hübner. Schließlich hätte schon der erste Sprung von der Bergkante mit einem gebrochenen Genick enden können.

Hauptgedenkort bleibt Derwitzer Museum

Wie sich das Gestell am Körper anfühlt, kann man beim Derwitzer Dorffest zu Ehren des Flugjubiläums am 4. Juni erfahren. Dann soll das Modell auf dem Berg aufgestellt werden. „Besucher können dann Fotos von sich im Flieger machen“, sagt Hübner. Am Fest werde sich auch das Nachbardorf Krielow beteiligen. Der Zwist früherer Jahre, wo genau Lilienthal entlanggeflogen ist, scheint beigelegt. „Vielleicht ist er in Derwitz gestartet und in Krielow gelandet“, sagt Hübner diplomatisch.

Auch aus Stölln, wo Lilienthal später seine Flugversuche perfektionierte, werden Gäste erwartet. Der Stöllner Otto-Lilienthal-Verein bezeichnet das havelländische Örtchen noch immer als ersten Flugplatz der Welt, da Lilienthal dort erstmals längere Strecken in der Luft zurückgelegt hat und Kurven geflogen ist.

Dass in Derwitz schon vorher kurze Gleitflüge gelungen sind, bestreiten aber auch die Stöllner nicht. In Derwitz selbst wird Lilienthals seit dem Jahr 2001 in einem kleinen Museum am Dorfplatz gedacht, rund 500 Gästen erklärt Gerd Schönefeld jährlich die Exponate. Künftig soll Lilienthal jedoch auch in der Werderaner Stadtmitte seinen Platz finden: Wenn das Lindow’sche Haus am Plantagenplatz zum Besucherzentrum wird, könnte das Flugmodell im dann überdachten Innenhof des Dreiseitengehöftes aufgehängt werden.

Hauptgedenkort für Lilienthal soll jedoch das Derwitzer Museum bleiben, das am Wochenende nach vorherigem Anruf bei Gerd Schönefeld zu besichtigen ist. „Ich komme auch mal in Arbeitsklamotten und bin in spätestens 20 Minuten da.“ Dann schwingt sich Schönefeld auf sein altes, blau-graues Mifa-Fahrrad und saust von seinem Haus an der Bundesstraße den Berg hinunter ins Dorf.

Enrico Bellin

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