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Victoria Morasch

© Quentin Lichtblau

Journalistenpreis „Langer Atem“: Die Unbeirrbaren

Sie werden nicht müde, wichtige Themen hartnäckig zu verfolgen: Die Nominierten für den „langen Atem“ erzählen, wie Corona ihre Arbeit verändert.

„Der lange Atem 2020“ sollte im November vergangenen Jahres verliehen werden. Wegen des Lockdowns musste die Veranstaltung aber abgesagt werden. Die Verleihung wird nun als hybride Veranstaltung stattfinden und am heutigen Donnerstag ab 18 Uhr von ALEX Berlin live via Kable und im Webstream auf www.alex-berlin.de/tv/livestream sowie auf YouTube und Facebook übertragen.

Viktoria Morasch, #MeToo auf der Berlinale: Das DAU-Projekt (taz): „Meine Recherchen zu #MeToo konnte ich zum Glück auch während der Pandemie fortsetzen. Schrieb ich zuvor über den Filmbetrieb und konkret über die Frage, wie die Leitung der Berlinale sich zu Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt verhält, so recherchierte ich zuletzt im Umfeld der Berliner Volksbühne. Die Gespräche mit den Betroffenen liefen über Video und Telefon. Ich hatte das Gefühl, sie mussten mir gegenüber noch mehr Vertrauen aufbringen, weil wir uns nicht treffen konnten. Dafür bin ich sehr dankbar. Der Vorteil eines langen Atems ist, dass eine Geschichte oft die nächste ergibt. Ich gehe davon aus, dass MeToo-Fälle in jeder Branche zu finden sind. Die Kunstwelt aber bietet, glaube ich, besonders gute Bedingungen für jegliche Form von Missbrauch. Auch die Fallhöhe ist größer: Die Berlinale und die Volksbühne sind nur zwei Beispiele, bei denen sich zu prüfen lohnte, ob der Anspruch, politisch progressiv und feministisch zu sein, auch wirklich eingehalten wird.“

Andrea Backhaus
Andrea Backhaus

© privat

Andrea Backhaus, Der Krieg: Berichte über und aus Syrien, Zeit Online: „Seit fast zehn Jahren herrscht Krieg in Syrien, und seit fast zehn Jahren berichte ich darüber. Die Grausamkeiten abzubilden, die von allen Kriegsparteien, besonders aber von Diktator Baschar al-Assad und seiner russischen Unterstützer, begangen werden, ist verstörend – aber unsere Pflicht. Ich war in den überfüllten Lagern in Jordanien und Libanon, Irak und der Türkei, um den Überlebenskampf der Vertriebenen zu dokumentieren. In Kairo, wo ich einige Jahre lebte, schrieb ich über die Stigmatisierung, mit der viele Geflüchtete konfrontiert waren. Ich sprach mit Syrern und Syrerinnen über ihre seelischen Wunden, die sie auch im Exil in Europa in sich tragen. Seit einigen Monaten lebe ich im Libanon und versuche von dort aus, über die anhaltenden Gräuel zu berichten. Auch wenn die Pandemie das Recherchieren vor Ort erschwert, bleibt das für uns Journalisten unerlässlich: Augenzeugen zu sein und jenen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Damit können wir die Schrecken des Krieges nicht beenden. Aber es kann niemand sagen: Wir haben nichts davon gewusst.“

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Sebastian Leber, Tagesspiegel
Sebastian Leber, Tagesspiegel

© Mike Wolff

Sebastian Leber, Verschwörungstheorien und Reichsbürger (Tagesspiegel): „Wer kritisch über Rechtsextreme, Verschwörungsgläubige und Reichsbürger berichtet, ist Angriffe und Drohungen gewohnt. Während der Pandemie hat dies aber neue Ausmaße erreicht. Die Einschüchterungsversuche finden physisch wie virtuell statt. Über Telegram organisieren selbsternannte „Querdenker“ Treibjagden auf einzelne Journalisten; die Redaktionen werden dann gezielt mit Wutmails, Anrufen und Homepage-Kommentaren bombardiert. Ich selbst wurde als Fälscher, Betrüger, Denunziant, Hassprediger, Stalinist, Blockwart, Pädophiler sowie Geheimagent diffamiert. Da ist es ein enormes Glück, wenn man sich auf seine Chefs und Kollegen verlassen kann. Wenn man sich nicht sorgen muss, ob einer, und sei es unterbewusst, vielleicht irgendetwas von dem Unsinn glaubt. Und wenn man im Gegenteil ermuntert wird, seine Arbeit einfach genauso fortzusetzen. 2020 hat mir gezeigt, welches Privileg es ist, im Ernstfall nicht allein dazustehen.“

[Mehr zum Thema Coronavirus: Der Weg zum Impftermin in Berlin: Ich möchte mich impfen lassen – was kann ich tun? (T+)]

Lisa Wandt (links), Ursel Sieber, Markus Pohl (rbb)
Lisa Wandt (links), Ursel Sieber, Markus Pohl (rbb)

© privat

Lisa Wandt, Ursel Sieber, Markus Pohl, Profitdruck in Kinderkliniken (rbb): „Wie sich Medizin verändert, wenn diese an Profit und Marktgesichtspunkten ausgerichtet wird, darüber haben wir lange vor Corona berichtet, etwa am Beispiel der Kindermedizin, wenn schwerkranke Kinder quer durch Deutschland gefahren werden müssen, weil Kinderintensivbetten wegen Personalmangel gesperrt sind. Durch Corona ist unser Thema „Markt macht Medizin“ stärker in den Fokus gerückt. Die Pandemie hält uns den Spiegel vor. In den Kliniken stehen tausende Intensivbetten als Reserve herum – deren Anschaffung ist 2020 von der Politik mit mehr als 600 Millionen Euro gefördert worden. Doch man kann sie nicht benutzen, weil Schwestern und Pfleger fehlen. Dieser Personalmangel zeichnet sich seit Jahren ab – durch die Einführung von Markt und Wettbewerb in die Krankenhäuser vor gut 20 Jahren. Wir würden uns wünschen, dass dieser Zusammenhang stärker thematisiert wird.“

Ernst-Ludwig von Aster
Ernst-Ludwig von Aster

© Grenzgänger Journalistenbüro

Ernst-Ludwig von Aster, Szenegröße in Thüringen: Der Neonazi Tommy Frenck (DLF Kultur): „Mitte Mai 2020. Kloster Veßra, ein 300-Seelen-Ort in Südthüringen. Tommy Frenck, „Aryan“-Tattoo am Hals, räsoniert über den rechten Weg. Vor mehr als zehn Jahren bewarb er sich mit seiner ultrarechten Sportgemeinschaft um Fördergelder. Beraten von einem V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes. Heute ist Frenck Kneipenbesitzer und Kreistagsmitglied. 2017 organisierte er im Nachbarort Themar mit 7000 Besuchern das größte Neonazi-Konzert der Republik. Eine rechtsextreme Karriere rund um eine Dorfkneipe...50 Meter weiter stellt Uwe eine neue Kaffee-Tasse mit der Aufschrift: ,Wir für Thüringen. Kein Ort für Nazis‘ auf seinen Imbiss-Tresen. Ein Teil des Erlöses geht an eine Bürgerinitiative. Vor zwei Jahren gründete sich in Kloster Veßra ein Bündnis – und stellt sich Tommy Frenck entgegen. Vorher herrschten Angst und Apathie... Wer über diesen Wandel berichten will, braucht Geduld. Eine engagierte Redaktion im Rücken. Und einen langen Atem.“

Sophia Wetzke, rbb
Sophia Wetzke, rbb

© Lars Pillmann

Sophia Wetzke, Todesfälle im Tempelhofer Künstlerstudio „Greenhouse (rbb): „Als für mich klar war, dass ich die düstere Geschichte im Berliner Kunst-Untergrund intensiver verfolgen möchte, habe ich die mir nahestehenden Menschen vorab gewarnt, dass sich die Gespräche des kommenden Jahres nun sehr wahrscheinlich fast ausschließlich um dieses Thema drehen werden. Man bekommt eben doch einen sehr fokussierten Tunnelblick, liegt nachts wach, überlegt, alles hinzuschmeißen. Es ist dann unglaublich viel wert, Freundinnen jederzeit Nachrichten schreiben zu können oder der Person, die nachts neben einem liegt, flüsternd von diesen Zweifeln erzählen zu können. Apropos Nachrichten: Messengerdienste haben bei mir inzwischen zum festen Recherche-Werkzeug etabliert. Wenn sich mein Protagonist in den USA oder in Mexiko befindet, während ich in Berlin sitze, ist diese Art der Kommunikation über alle Zeitzonen hinweg ein Segen. Ein großes Danke also an mein unterstützendes Umfeld – und ein kleines Extra-Danke an den Menschen, der sich Sprachnachrichten ausgedacht hat. Ausgesprochen praktisch für das auditive Medium Radio und Podcast.“

Johannes Böhme
Johannes Böhme

© Jacob Schnetz

Johannes Böhme, Täter und Opfer in Uganda: Prozess am Internat. Gerichtshof (SZ-Magazin): „Wie recherchiert man in Zeiten der Pandemie? Ich habe nicht den Eindruck, dass sich etwas fundamental geändert hat – nur, dass Schwächen und Stärken jetzt deutlich zu Tage treten. Einige Wissenschaftsjournalisten liefern Meisterleistungen ab. Aber es zeigt sich auch, was fehlt: Zum Beispiel Journalisten, die Statistiken kompetent interpretieren können; solche die auch den Methoden-Teil in Artikeln in „The Lancet“ noch verstehen. Es ist auch kein Wunder, dass die Boulevardmedien in der Pandemie noch mehr irrlichtern als ohnehin schon. Die Krise legt offen, was bereits im Argen lag.“

Hajo Seppelt (links) und Jonathan Sachse
Hajo Seppelt (links) und Jonathan Sachse

© privat, Ivo Mayr/Correctiv

Hajo Seppelt und Jonathan Sachse, Schmerzmittelmissbrauch im Fußball (Correctiv/ARD-Dopingredaktion): „Die Recherche zum Schmerzmittelmissbrauch im Fußball konnte nur mit viel Teamwork gelingen – in einer Kooperation von Correctiv, der ARD-Dopingredaktion und der Potsdamer Produktionsfirma Eye-Opening.Media. Wir sind dankbar, dass wir in Medienhäusern arbeiten, die Zeit geben für aufwändige Recherchen. Unsere Publikationen führten zu mehreren Konsequenzen: Der Deutsche Fußball-Bund integrierte die Aufklärung zum Schmerzmittelmissbrauch in die Trainerausbildung. Die Nationale Anti-Doping-Agentur wertete als Reaktion auf die Recherche erstmals mit konkreten Zahlen aus, wie flächendeckend Schmerzmittel in sämtlichen Ligen des deutschen Profifußballs eingesetzt werden und analysierte tausende Tests. Das Fazit: Die Ergebnisse seien alarmierend. Und auch die Politik reagierte: Im Januar wurde eine öffentliche Anhörung im Sportausschuss des Bundestages einberufen, bei der Sachverständige und Abgeordnete über Konsequenzen aus der Recherche diskutierten. Der massenhafte Missbrauch von Schmerzmitteln im Fußball betrifft zahlreiche Menschen. Wir werden sehen, ob unsere Recherchen an manchen Stellen einen Wandel bewirken. Auf jeden Fall bleiben wir am Thema Medikamentenmissbrauch und Doping dran.“

Kai Schlieter
Kai Schlieter

© Martina Thalhofer

Gabriela Keller
Gabriela Keller

© Jacobia Dahm

Gabriela Keller und Kai Schlieter, Fragwürdige Investoren auf dem Berliner Immobilienmarkt (Berliner Zeitung): „Die Corona-Krise hat in den deutschen Redaktionen sehr viele Dinge auf einmal verändert. Gerade in den Zeiten, in denen die meisten Reporterinnen und Reporter im Homeoffice arbeiteten, hat sich gezeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit ist. Dass die Pandemie die Digitalisierung in den Redaktionen in kürzester Zeit mit Wucht erzwungen hat, ermöglicht und beschleunigt den Austausch trotz physischer Distanz: Telefonate und Meetings auf Zoom oder Teams haben die Gespräche am Konferenztisch ersetzt, Texte werden per Mail hin und her geschickt, Tipps, Informationen und Links per Signal geteilt, auf Slack immer neue Kanäle mit Diskussionen und Absprachen gefüllt. Damit wirkt die Pandemie als Druckverstärker von Entwicklungen, die sich seit Längerem abzeichnen: Fallende Werbeeinnahmen und sinkende Auflagen führen dazu, dass viele Zeitungen aufwendige Recherchen nicht mehr leisten können. Allein aus wirtschaftlicher Sicht ist es also sinnvoll, Ressourcen zu bündeln. Die aktuell brisanten Nachrichten erfordern eher Teamwork als Konkurrenz – ob die Korruptions-Affäre der Union oder der Wirecard-Skandal: Der Reporter als Einzelkämpfer dürfte gegen die Komplexität dieser Themen kaum ankommen, umso weniger in einer Branche, deren Kapazitäten von Stellenabbau und Kürzungen aufgerieben werden.“

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