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Berlin: Johanna Fischer (Geb. 1924)

Einmal nur sah die Tochter sie weinen

Ebenerdig wuchs sie auf, und bodenständig blieb sie, eine Meisterin der praktischen Lebensfragen. Ihre Schulfreundinnen liebten den langen, fensterlosen Wohnschlauch, der hinter dem Elektrofachgeschäft von Johannas Eltern lag. Die Wohnung war wie eine Höhle, die Sicherheit und Geborgenheit vermittelte in unsicheren Zeiten. Und dann sackte sie doch zusammen unter der Bombardierung Berlins.

Doch da war Johanna schon eine junge Frau, ausgebildet von den Nazis: Sie hatte Hunger im Bauch und Begriffe wie Vaterlandstreue und Gehorsam im Kopf. Sie verbat sich das Plündern, zog es vor zu hungern. So erzählte sie es später, als sie sich zu fragen begann, wie es den Nazis gelungen war, solche Begeisterung in ihr zu entfachen für den BDM, in dem sie rasch zur Gruppenleiterin aufgestiegen war. Etwas anderes hatte sie nicht gelernt, also knüpfte sie, kaum dass der Krieg vorbei war, daran an, ließ sich zur „Jugendleiterin“ schulen und wurde Kindergärtnerin.

Wieder stieg sie auf in leitende Funktionen, wechselte in die Abteilung „Jugend und Sport“ des Bezirksamts Kreuzberg. Und immer mehr Langhaarige betraten ihre Amtsstube, junge Männer und Frauen, die antiautoritäre Kindergärten gründen wollten.

Und Frau Fischer stellte ein. Wurde SPD-Mitglied. Sprach über ihre Funktionen beim BDM. Las die neuen, pädagogischen Konzepte.

Ihrer Tochter erlaubte sie, daheim Jungs übernachten zu lassen. Der Sohn erhielt für seine Mathematik-Zensuren keine Strafe, sondern Nachhilfe, und als auch die nichts half, ermunternde Worte.

Johanna Fischer versuchte sich herauszuschälen aus der eigenen Prägung und blieb doch soldatisch streng mit sich. Knuddeln, herzen, heulen gab es nicht. Keine emotionalen Ausschläge, nicht nach oben, nicht nach unten.

Sie behielt die Kontrolle, in ihrer Hand liefen viele Fäden zusammen, beruflich wie daheim. Einmal nur sah die Tochter sie weinen. An diesem Abend stand Johanna im Kinderzimmer und schluchzte, weil ihr alles zu viel war: der kranke Mann, die Arbeit, die Kinder. Doch schon am nächsten Tag machte sie genau so weiter wie zuvor, stemmte sich dem Alltag entgegen ohne Klage, ohne um Hilfe zu bitten.

Als die Mauer fiel, stellte Johanna ein Schild auf die Straße: „Toiletten hier“. Darunter ein Pfeil, der auf ihre Haustür zeigte. Sie wohnte nah an der Grenze und bot den Volksmassen zur Euphorie das Klo. Wer wollte, bekam noch einen Kaffee dazu, gegen die Kälte. So war Johanna, so blieb sie bis zum Schluss.

Kaum pensioniert, wurde sie ehrenamtliche „Schiedsfrau“ und half anderen dabei, ihre Emotionen trockenzulegen. Immer wieder saß sie kopfschüttelnd im Kreis ihrer Freunde und berichtete von den knapp verhinderten Prozessen um Gartenzwerge oder nicht zurückgeschnittene Äste.

Ihr letztes Organisationswerk war der eigene Lebensabend, den sie nicht allein zubringen wollte. Also schloss sie sich der Wohnutopie eines niederländischen Architekten an: Menschen unterschiedlicher Generationen und Einkommensschichten unter einem Dach.

Am Ende war es Johanna, die man anrief, weil die Fensterfirma nicht gekommen war oder eine Tür klemmte. Einmal versuchte sie zu delegieren, doch delegierte das Delegierte schnell wieder an sich selbst zurück.

Die Utopie erwies sich weniger utopisch als erhofft. Unter demselben Dach wurden die Unterschiede weitergelebt, Akademiker zu Akademikern, Arbeitslose zu Arbeitslosen.

Was die Bewohner einte, waren praktische Fragen: die Nutzung des Gemeinschaftsraums, Hausaufgabenhilfe für die Kinder. Was sie einte, war Johanna, die diese Fragen bearbeitete.

Ihren 90. Geburtstag hatte sie bereits sorgfältig ausgetüftelt. Der Festort war abgeschritten, die Einladungen waren geschrieben.

Die Krankheit überfiel sie aus dem Hinterhalt, zwang sie ins Krankenhaus. In diesen letzten Tagen ließ Johanna Fischer los, flüsterte, kaum hörbar: „Könntest du meine Hand nehmen?“ Und die Tochter nahm die Hand und streichelte sie, und Johanna ließ es geschehen.

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