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Berlin: Joachim Leineweber (Geb. 1949)

Er scheute keine Auseinandersetzung

Dr. med. Dr. med. dent. Joachim Leineweber operierte für sein Leben gern. In der Kneipe ließ er auch mal die Umstehenden an seiner Passion teilhaben, wenn auch nur pantomimisch. Der Tresen war Operationsstuhl, an der Wurzel eines Weisheitszahnes hatte sich ein Gesichtsnerv verschlungen, den es zu verlegen galt. Am Ende flog der unsichtbare Zahn in hohem Bogen durch die Luft – zum Vergnügen aller.

Joachim kam in den Siebzigern nach Berlin, studierte Zahnmedizin und verdiente sein Geld mit Busfahren. Er liebte ja die Bewegung, fuhr später Porsche-Rennen, liebte seine Harley, schwärmte für die Concorde und beherrschte als Kunstflieger die Vorwärtsrolle. Selbstverständlich besaß er auch sämtliche Sportbootführerscheine. In den Achtzigern nahm er regelmäßig an Marathonläufen teil. Zeitlebens reiste er viel, am liebsten dorthin, wo es kalt und rau war.

Mit 44 beendete er sein Zweitstudium der Humanmedizin, ebenfalls mit einem Doktortitel. Doch seinen Vater, einen Duderstädter Landarzt, konnte er damit nicht beeindrucken: Für ihn blieb der Sohn ein Zähnereißer. Joachim brach den Kontakt zu den Eltern ab, die Kränkung blieb. Den Kummer bekämpfte er mit Alkohol und Tabletten. Allein sein Ehrgeiz bewahrte ihn vorm Absturz.

Er scheute keine Auseinandersetzung. Als seine türkische OP-Schwester ihren Mann verlassen wollte, nahm er sie bei sich auf. Den Bruder, der die junge Frau mit Schlägen bedrohte, schickte er brüllend nach Hause. „Das war Joachim. Er konnte schlagartig helfen“, schwärmt ein Freund. „Ein fantastischer Mensch mit Kanten, kein Mitschwimmer.“

Selbstverständlich schätzten nicht alle diesen selbstverliebten, unberechenbaren Mann, der sich schwer unterordnen konnte. Als er eine Praxis im Forum Zehlendorf eröffnete, dauerte es nicht lange, bis er sich mit seinen Mitmietern verkracht hatte: Eine Steuerberaterin soll er im gemeinsam genutzten Aufgang eingeschlossen haben, einem Kollegen zerkratzte er vor laufender Überwachungskamera das Auto. Auch die Rechtsanwälte, die unter Leinewebers Praxis arbeiteten, glaubten nicht an Zufälle, wenn wieder einmal das Wasser von ihrer Decke tropfte.

Im Dezember 2007 kündigte Joachim seine Praxisräume pro forma, um die Miete zu reduzieren. Ungeahnt bestand nun der Vermieter auf dem Auszug. Joachim verhandelte, drohte und bettelte. Ohne Erfolg. Zwar ließ ihn der Vermieter ein halbes Jahr länger bleiben, doch weder gelang es dem Arzt, seine Praxis zu verkaufen, noch in andere Räume umzuziehen. Im Juni 2009 fand er: „Wenn das, was ich in einem Jahrzehnt geschaffen habe, verschwinden muss, kann ich mich auch selbst auslöschen.“ Mit drei Kanistern Benzin fuhr er ins Forum Zehlendorf, ständig zwischen Tun und Lassen schwankend. Er tränkte mit dem Benzin die Praxis, entzündete ein Streichholz – und floh aus dem Gebäude. Drei Monate später bekundete er vor dem Berliner Landgericht, er habe eigentlich im Feuer sterben wollen. Ein Gerichtspsychiater bescheinigte dem Angeklagten eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und verminderte Schuldfähigkeit, das Gericht verurteilte ihn zu drei Jahren und sechs Monaten Haft. Die Revision war erfolgreich: Die Selbstmordabsichten seien zu wenig gewürdigt worden, rügte der Bundesgerichtshof.

Das erfuhr Joachim nicht mehr. Im April hatte er im Leipziger Fünf-Sterne- Hotel Fürstenhof ein Zimmer gemietet, die Tür verriegelt, einen Abschiedsbrief geschrieben und Tabletten genommen.

Diesen leisen Tod rechnen ihm seine Freunde hoch an: Einer sagt: „Ich habe damit gerechnet, dass er frontal mit dem Auto jemanden rammt.“

Joachim hinterließ acht Umzugskartons mit vielen Reisefotos und ein Stofftier, den „kleinen Löwen“. Der begleitete ihn in den letzten zehn Jahren überallhin. Ob angeschnallt im Porsche, beim Fliegen oder im Restaurant, sein „kleiner Löwe“ war immer dabei.

Seine Bestattung in der Nordsee hatte Joachim selbst organisiert. Es war Ende Mai, doch die Sonne ließ sich an diesem Tag nicht blicken. Die See war rau, so wie er sie geliebt hatte. Uta Eisenhardt

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