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Berlin: Joachim Gutsche (Geb. 1926)

Mit sich selbst eins sein, das schließt alle anderen aus

Die Nachbarn staunten. Bild um Bild trug die Tochter aus der kleinen Wohnung, Öl, Gouache, Farbradierungen. Hunderte Bilder.

Ein etwas schrulliger alter Mann, der fünfzig Jahre in diesen zwei Zimmern gelebt hatte. Bis zuletzt trug er sein Fahrrad nach oben. Er buk gern Blechkuchen, eine Abteilung Apfel, eine Abteilung Biokäsevollkorn. Er kochte nur Gesundes. Ärzte ließ er nicht an sich heran.

Jeden Sonntag um vier telefonierte er mit Tante Inge und Tante Ursel, ansonsten führte er gern Selbstgespräche. Auf Drängen seiner Tochter besuchte er im Alter seine Cousins in Amerika, das gefiel ihm. Opa war er nicht so gern, aber er versprach, seine zwei Enkel bald sehen zu wollen.

Ansonsten lebte er für seine Kunst. Er war ein großer Künstler. Er selbst wusste es immer schon. Die Eltern waren sich nicht so sicher, drängten ihn, Technischer Zeichner zu werden. Sein Glück, denn so kam er zur Marine. Die Klassenkameraden starben an der Ostfront, er wurde zum U-Bootfahrer ausgebildet. Und hatte wieder Glück. Sein U-Boot wurde versenkt, bevor er an Bord ging. Er geriet in englische Kriegsgefangenschaft, auch die überstand er unbeschadet. Er begann ein Studium an der Hochschule der Künste, verlieh gutgläubig seinen Ostausweis an Kommilitonen, die damit ohne sein Wissen optische Geräte im großen Stil einkauften. Als er einige Zeit später seine Familie in Zwickau besuchen wollte, wurde er verhaftet. Vier Jahre, Vorwurf Wirtschaftskriminalität. Mit seinem Löffelstiel ritzte er einen Akt in die Gefängniswand: Seht her, ich bin unschuldig, ich bin Künstler.

Sie haben ihm nicht geglaubt, fortan hat Joachim Gutsche keinem mehr geglaubt. 1966 heiratete er, aber es war nicht einfach auf kleinem Raum mit ihm zusammenzuleben. Er hatte Angst, verfolgt zu werden. Die Stasi verfolgte ihn. Der Verfassungsschutz verfolgte ihn. Die Frau, die Tochter, alle waren Teil des feindlichen Systems. Für Schlösser hat er ein Vermögen ausgegeben. Die Angst bespitzelt, beklaut zu werden. „Die waren drin gewesen.“

Zuweilen hat er Briefe geschrieben und auf seine Verfolgung aufmerksam gemacht. Er hatte ja auch eine dicke Stasiakte. Ansonsten: Keine Kontakte. Kein Freund. Nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, blieb nur die Tochter. Aber selbst die verdächtigte er. Flora, die Tochter heißt Flora, er liebte Flora, Flora und Fauna. Die Paranoia setzte seiner Existenz sichere Grenzen.

Er kam gut mit sich aus. Er lebte in seinem Werk. Er wollte nichts verkaufen. „Ich mal doch nicht für den!“ Die waren alle seiner Bilder nicht wert. Verständlich, denn die Bilder sind schön. Eigenartig, aber nicht versponnen. Voller Farben, die nicht satt machen, sondern immer wieder hinsehen lassen. Rätselhafte Motive, aber keine Hieroglyphen des Wahns.

Er malte bis spätnachts, jeden Tag. Kein Fernsehen, ab und an Zeitung. Eine bunte Welt. Die Leute glauben immer, Menschen mit Wahn malen wahnsinnige Bilder. Schwarz in Schwarz, der Schrei ein offener Mund. Aber Wahn kann eine kluge Klausur sein. Mit sich selbst eins sein, das schließt alle anderen aus. Das schützt, stimmt heiter. Dieser schmale Grat, auf dem alle Künstler jonglieren. Exaltiert oder bieder, Grenzgänger oder Heimchen, Poseur oder Poet, oder alles zugleich – ohne es die anderen sehen zu lassen. Es gab einige kleine Ausstellungen, aber Ruhm war ihm verdächtig.

Warum diese Scheu? „Im letzten oder vorletzten Grund“, schrieb Kafka an einen Freund über seine Freude an der Einsamkeit, „ist es ja nur Todesangst. Zum Teil auch die Angst, die Götter auf mich aufmerksam zu machen; lebe ich hier in meinem Zimmer weiter, vergeht ein Tag regelmäßig wie der andere …, so schön, so schön ist es, unbeachtet zu sein.“

Zum Ende des Jahres wird es noch einmal eine Ausstellung geben. Vielleicht wird er nach seinem Tod berühmt. Was soll’s? Mit dem, was man tut, glücklich sein, das ist ihm bereits gelungen. Und das ist kein Wahnsinn, das ist eine Kunst. Gregor Eisenhauer

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