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Spitzenvorstellung. Das Kindercasting im Friedrichstadt-Palast ist ein großer Spaß – zumindest für diejenigen kleinen Teilnehmer, die mal große Tänzer werden wollen.

©  Doris Spiekermann-Klaas

Jetzt mach mal Ballett: Ein Besuch beim Kindercasting im Friedrichstadt-Palast

Beim Casting für das junge Ensemble im Friedrichstadt-Palast tanzen 350 Mädels und Jungs vor. Nur 30 werden genommen. Ihre Körper müssen biegsam sein.

Livia macht sich Sorgen. Die Sechsjährige hat die Beine vor sich auf dem Tanzboden ausgestreckt und beugt das Gesicht zu den Knien. „Als ob ihr euren Knien ein Küsschen gebt“, hat die Lehrerin gesagt. Die geht jetzt von Mädchen zu Mädchen und prüft, ob sie das können. Wer es nicht schafft, muss in die letzte Reihe. Davor hat Livia Angst. Denn die letzte Reihe bedeutet: Du bist raus.

Die Lehrerin ist Christina Tarelkin, Direktorin des jungen Ensembles des Friedrichstadt-Palasts. In jedem Frühjahr wird hier zum Kindercasting eingeladen. Dann füllt sich das Foyer mit aufgeregten Müttern und zappeligen Mädchen. Raus aus den Anoraks, rein in die Tanzsachen und Schläppchen, die Mama bürstet die Haare durch und steckt sie fest, zupft die Kleidung zurecht. Vor einigen Jahren waren es zweitausend Bewerberinnen, in diesem Jahre sind es immerhin 350. Fünfzig von ihnen werden für die nächste Runde ausgewählt. Christina Tarelkin weiß genau, was sie will: biegsame Körper. „Die Kinder müssen keine tänzerische Ausbildung mitbringen, die kriegen sie bei uns.“ Aber Freude an Bewegung und Rhythmusgefühl sind wichtig. Und sie sollten ihren Knien ein Küsschen geben können.

Tagelang geheult, dann die Tränen abgewischt und das ganze Jahr lang trainiert

Maria, jetzt 16, konnte das damals nicht. Sie wurde beim Casting in die letzte Reihe und dann nach Hause geschickt. Sie hat tagelang geheult, dann die Tränen abgewischt und das ganze Jahr lang trainiert, bis sie die Streckungen und Dehnungen so konnte, wie sie verlangt waren. Maria wollte unbedingt Tänzerin werden. Sie hatte zuvor die Kindershows des Friedrichstadt-Palastes gesehen und war überwältigt. Auf diese Bühne wollte sie. Unbedingt.

Livia hat es unterdessen geschafft. Die erste Runde ist überstanden. Achtzig Mädchen jubeln an diesem Mittwoch. Christina Tarelkin hat zwar keine Fotos für sie, aber einen Brief an die Eltern. Darin steht, dass sie wiederkommen dürfen zum Recall. Die anderen stehen mit leeren Händen da. Frau Tarelkin beschwichtigt: „Seid nicht traurig, vielleicht klappt es im nächsten Jahr.“ Aber da fließen schon die ersten Tränen, und später, im Foyer, haben die Mütter alle Hände voll zu tun, ihre Kinder zu trösten.

250 Kinder und Teenager aus mehr als 20 Nationen werden zehn Jahre lang unterrichtet

Jetzt hat Livia das Problem, dass sie eine weitere Woche das Geheimnis hüten muss. Denn sie hat niemandem davon erzählt, dass sie sich hier bewirbt. Niemandem in der Schule. Nur ihrer besten Freundin, aber die schweigt wie ein Grab. Und ihrer Mutter natürlich, die sie begleitet, auch wenn sie nicht so ganz überzeugt ist von der Sache. Sie ist Musikerin und kennt die Strapazen des Vorsingens. „Es soll ihr Spaß machen, aber nicht in Stress ausarten.“ Eine andere Mutter bringt ihre Tochter zum Casting, weil sie selbst als Mädchen getanzt und das langjährige Gemeinschaftsgefühl schätzen gelernt hat. „Dort habe ich Freundinnen für mein Leben gefunden.“

Das junge Ensemble des Palastes ist das größte Kinder- und Jugendensemble Europas. 250 Kinder und Teenager verschiedener Altersstufen und aus mehr als 20 Nationen werden zehn Jahre lang unterrichtet und auf die Shows vorbereitet. In diesem Oktober wird es 70. Unter dem Motto „Kinder spielen für Kinder“ tanzten und spielten erstmals im Oktober 1945 die Kinder des Palastes im „Himmlischen Jahrmarkt“. Was unter dem Begriff Kindervarieté begann, hieß später Kinderrevue und heute Kindershow. Das hat nicht nur sprachliche Gründe. Aus den einstigen Revuen mit dem Charme der Pappkulissen sind heute perfekte Inszenierungen geworden, die ähnlich aufwendig sind wie die Shows für die Großen.

Mit 16 ist Schluss mit dem jungen Ensemble

Das Ensemble kann das Sprungbrett für eine große Karriere sein. Paula Beer, Alina Levshin, Julia Richter oder in diesen Tagen Luisa Spaniel sind von hier aus in Theater, Film und Fernsehen hineingewachsen. Doch der Übergang ist schwierig. Wenn die Mädchen 16 sind, ist Schluss mit dem jungen Ensemble. Maria ist jetzt 16 und hat auch schon größere Rollen gespielt. Jetzt sind ihre zehn Jahre hier fast vorbei. Sie weiß noch nicht so recht, wie sie mit so viel freier Zeit umgehen soll. Wenn die Kinder eine Show einstudieren, dann müssen sie drei-, viermal in der Woche kommen. Andere Hobbys fallen dann weg. Die Schule soll ja nicht leiden. „Wir haben die Hausaufgaben im Auto oder in den Pausen der Shows gemacht.“ Maria hat es als positiven Stress empfunden, auch wenn die Zeit mit Freunden außerhalb des Palastes zu kurz kam. Ihr Ratschlag für die Kinder, die jetzt anfangen: „Immer deinem Traum folgen.“ Marias eigener Traum ist es, nach New York zu gehen und Hip-Hop zu tanzen. Ihre Mutter findet Hip-Hop allerdings zu aufreizend – und von New York hat Maria ihr noch nichts erzählt.

Der Recall für die Kleinen, eine Woche später. Das Studio ist wieder voll, diesmal sind die Übungen etwas anspruchsvoller. Sprünge durch den Raum. Sich in Schmetterlinge verwandeln. Ein Junge, der verloren herumsteht und schließlich in Tränen ausbricht, wird von Christina Tarelkin auf den Arm genommen und in die letzte Reihe gebracht. „Manchmal wollen die Eltern etwas, was nicht zu ihren Kindern passt.“ Die letzte Reihe füllt sich allmählich, die Anspannung der anderen ist spürbar. Doch auch das Bedürfnis zu plaudern. Wenn sich Pausen ergeben, schwirrt die Luft vom Geplapper der Mädchen, die grade Bekanntschaft schließen. Schulhofatmosphäre. Frisuren werden verglichen. Der Dutt liegt klar im Trend. Rosa Schleifchen, Schläppchen, Jäckchen an der Stange. Dazwischen zwei ernste Jungs, die sich fragen, in welche Welt sie hier geraten sind.

Und dann ist es entschieden: „Ihr seid drin!“ Vielstimmiger Jubel auf der einen Seite, und in der Ecke drüben betretenes Schweigen. So werden auch die Kleinen schon an eine Gesellschaft gewöhnt, die nicht für alle Platz hat und deshalb aussortiert. Die Fernsehshows nach dem Castingprinzip, DSDS oder GNTM, laufen seit Jahren in Dauerschleife.

Fünfzig Kinder sind ins junge Ensemble aufgenommen und durchlaufen jetzt eine Probezeit von drei Monaten, in der erfahrungsgemäß noch einmal zwanzig abspringen, dann eher aus persönlichen Gründen. Für die anderen beginnt heute eine zehnjährige Reise. Livia sagt: „Heute Abend wird gefeiert!“

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