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Mit Gefühl. Max Andrzejewski ist Komponist und Schlagzeuger des Kim-Collective, das an der Grenze zur Improvisation arbeitet.

© S. Milojkovic/promo

Jazz oder nie: Wo geht was in der Berliner Jazz-Szene?

Zwischen weichgespülter Fahrstuhlmusik mit Rauchverbot und unbequemer Avantgarde – ein Überblick über Clubs und Musiker der aktuellen Berliner Szene.

Geradezu altehrwürdig klingt er, der Jazz, der von den Bühnen gediegener Clubs tönt. Auf schwarzweißen Postern an ihren Wänden ist seine Geschichte nur noch Deko: die angespannten Gesichtsmuskeln um Sauerstoff ringender Lungenarbeiter wie Miles Davis, John Coltrane, Charlie Parker, umgeben von Dreck und blauem Dunst.

Der Jazz war der Sound des schwarzen Widerstands in den USA. Er klingt auch heute noch wie damals, nur hören wir ihn anders. Jeder Ton wird souverän dargeboten von jungen Musikern, die die Eigenheiten der Altmeister bis ins letzte Detail studiert und verinnerlicht haben. Und jeder Ton trifft auf eine Hörerschaft, die sich längst daran gewöhnt hat. Dasselbe musikalische Idiom, das einmal verstörend wirkte, ist heute vollständig vorhersehbar.

So ist der Jazz, wie Musikwissenschaftler sagen würden, absolute Musik geworden, bereinigt vom programmatischen Schmutz der Geschichte – nicht einmal Passivrauchen geht hier noch. Jazz, der sitzt wie ein frisch gebügeltes Hemd, warm und wohlig, eine ergonomische Musik, die nirgends drückt. Ist der Jazz also tot?

Spricht man mit Berliner Musikern über den hiesigen Jazz, bestätigt sich die Diagnose keineswegs. Natürlich gibt es auch in Berlin Traditionalisten – die gibt es aber in jeder Stadt, das ist nichts Berlinisches. Es gibt hier seit einiger Zeit wieder zunehmend kleine Clubs, in denen die Einrichtung eigentlich gar keine ist, weil es vor allem um die Musik geht, mit Musikern und einem Publikum, das im Schnitt um die Dreißig ist.

Und es gibt auch keinen Mangel an Musikern, die teils unbequeme, teils ungewohnte, teils auch versöhnliche, aber immer zeitgenössische Musik machen, statt des tausendsten Aufgusses des Immergleichen. Dass das der hiesigen Szene einen guten Ruf beschert, zeigt sich an ihrer stark internationalen Mischung, sagt Nadin Deventer, seit 2017 Leiterin des Jazzfestes am Haus der Berliner Festspiele.

Berliner Jazz von den Rändern her denken

Will man den Berliner Jazz beschreiben, ist man schlecht beraten, nach allgemeingültigen Aussagen zu suchen. Man muss ihn eher von den Rändern her denken. „Die historischen Neuerer haben sich schon immer an den Grenzen abgearbeitet“, sagt Deventer. In den Randbereichen sind die Definitionen brüchig.

Wo Jazz aufhört und schon etwas anderes beginnt, darüber werde auch beim Europe-Jazz-Network, dem europaweiten Dachverband der Interessenvertreter des Jazz, alljährlich wieder neu diskutiert, sagt sie. Deventer ist verantwortlich für eine Öffnung des renommierten Berliner Jazzfestes für die hiesige Szene. Dabei werden Weltstars wie Anthony Braxton und Marc Ribot neben lokale Ensembles wie das KIM-Collective gestellt, das überwiegend aus Jazzmusikern besteht, die an der Grenze der Improvisation zur auskomponierten Musik arbeiten.

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Einer der Komponisten und zugleich Schlagzeuger des KIM ist Max Andrzejewski. Er meint, dass die Randbereiche der Berliner Jazzszene nicht nur besonders interessant seien, „das Besondere am Berliner Jazz ist, dass die Randbereiche hier eine so große Rolle spielen, dass sie im Grunde wieder die Mitte bilden“.

Und wenn an der Rändern so viel los ist, entsteht naturgemäß ein reger Austausch mit angrenzenden Sparten, blüht die wechselseitige Inspiration. So entsteht das Paradox eines stilistisch uneingeschränkten Jazz, der mal nach zeitgenössischer Musik klingt, dann wieder wie Neo-Soul, Minimal Music, experimentellem Rock oder im weitesten Sinne elektronischer Musik. „Mein stilistischer Blick wird in Berlin immer weiter, man hört auf, in Sparten oder Genres zu denken – man hört einfach Musik“, beschreibt Andrzejewski den befreienden Effekt.

Der Unterschied zur „Echtzeitmusik"

Matthias Müller, Jazzposaunist und Mitglied des „Splitter Orchesters“, bemerkt, dass manche Musiker, die sich im Selbstverständnis zum Beispiel der sogenannten Echtzeitmusik zuschreiben, sich vom Jazz ausdrücklich distanzieren. So hat die Echtzeitmusik mit traditionellem Jazzverständnis nur noch Improvisation und zum Teil das Instrumentarium gemein, unterliegt aber anderen Regeln und klingt ganz anders. In Jazz-Konzertkalendern wird sie dennoch geführt, während der Echtzeitmusik-Kalender unzählige Jazzveranstaltungen listet.

Wenn der Jazz aber alles kann und nichts muss, was bleibt dann noch spezifisch Jazziges übrig? Eben diese Frage hat man auch einmal in Bezug auf John Coltrane gestellt, wie auf alles, was Ornette Coleman gemacht hat. Selbst Miles Davis distanzierte sich in den Siebzigern zeitweise vom verstockten Jazzbegriff. All diese Musik ist heute bei Musik-Streamingdiensten selbstverständlich in der Kategorie Jazz zu finden.

Denn, verhält sich der Jazzbegriff nicht genauso wie alle Kunst? Wenn darüber, was Kunst sei, gestritten wird, so ist das doch ihr stärkstes Lebenszeichen. So lange ihr Platz in der Welt ungeklärt, ihr Anliegen ungelöst ist, besitzt sie Relevanz. Und nur in diesem Schwebezustand entwickelt sie sich weiter.

Ist die Frage aber einmal geklärt, wird die Kunst zu einer Art Trophäe überwundener Probleme – wie ein Streichtrio Beethovens, das seine Zeitgenossen verstörte aber heute im Nobelrestaurant zur Hintergrundberieselung taugt, ein Gemälde Malevics, das seinerzeit skandalös war, heute im Warteraum für Stimmung sorgt, oder Gershwins „Summertime“, das harmlos im Supermarkt plärrt, um den Kaufreflex anzuregen.

Schon einige Kunsttheoretiker haben in dem Bedürfnis, nur das Angenehme und Gewohnte in der Kunst zu finden, eine milde Form der Nekrophilie erkannt. Zum Glück ist dagegen die Berliner Szene mit ihrem jungen, an neuen Musikerfahrungen interessierten Publikum, sehr lebendig.

Eines noch: Ihr loses Gefüge und die Freiheit von kategorischen Grenzen kommt der Musik zugute, ist für Institutionen allerdings eine Herausforderung. Das macht dieses Besondere des hiesigen Musikkosmos zerbrechlich. Aktuelles Beispiel ist die Entscheidung des Senats, das Areal der Alte Münze zum „House of Jazz“ zu erklären, nachdem über ein Jahr lang Vertreter der freien Szenen am Runden Tisch mögliche Zukunftsszenarien diskutiert hatten. Die Initiative Neue Musik hat sich schon im Januar über die einseitige Begünstigung empört. Aber auch Andrzejewski und Deventer sehen eine unnötige Vertiefung des Grabens zwischen Neuer Musik und Jazz.

Bleibt nur zu hoffen, dass Berliner Musikerinnen und Musiker solche strukturellen Spannungen weiterhin in Harmonie – oder interessante Dissonanz – auflösen.

Eine Auswahl an Spielstätten für Randbereiche nach Max Andrzejewski, Nadin Deventer und Matthias Müller:
- Au Topsi Pohl, Pohlstraße 64, Tiergarten
- Donau115, Donaustraße 115, Neukölln
- KM28, Karl-Marx-Straße, Neukölln
- Loophole, Boddinstraße, Neukölln
- Petersburg Arts Center, Kaiserin-Augusta-Allee 101, Moabit
- Sowieso, Weisestraße 24, Neukölln
Festivals:
- A-Larme Festival, Jazz & DADA (Datum noch unbekannt alarmefestival.de)
- Jazzfest (5. bis 8. November berlinerfestspiele.de)
- XJazz (6. bis 10 Mai 2020, siehe xjazz.net)
Kalender:
- echtzeitmusik.de
- field-notes.berlin
Orchester:
- Andromeda Mega Express Orchestra (andromedameo.com)
- Splitter (splitter.berlin)
- Trickster (tricksterorchestra.de)
- KIM Collektive (kimcollective.wordpress.com)

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