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Berlin: Jan-Jürgen Jenrich (Geb. 1959)

Mit wenigen Griffen rückte er das schiefe Sprachbild gerade

Mit ernstem Blick und ganz in Schwarz gekleidet legt die junge Schriftstellerin das letzte Manuskriptblatt beiseite. Eine knappe halbe Stunde hat sie aus ihrem neuen Roman gelesen, und jetzt spricht die Jury. Jedes Jahr im Sommer versammelt sich ein Literaturgericht im österreichischen Klagenfurt, um die Preise des Bachmann- Wettbewerbs für deutschsprachige Literatur zu vergeben. Die Juroren gelten als unverblümt und nicht gerade zimperlich.

Ihr Urteil: „Elegant und souverän gemacht.“ „Äußerst packend und abgründig.“ „Die Sprache ist absolut durchgearbeitet, die Sätze haben die Aura des Perfekten.“ Die perfekten Sätze kannte Jan Jenrich bis ins Detail. Als Lektor der Autorin hatte er sie in den letzten Monaten einzeln unter die Lupe genommen, wenn nötig umgebaut und mitgeformt. Wenn eine Metapher nicht stimmte, rückte er mit wenigen Griffen das schiefe Sprachbild gerade. „Er schliff auch an einem sehr guten Text, bis er noch klarer funkelte“, sagt der Verleger.

Die Leidenschaft und das Gefühl für Sprache hatte Jan seit Kindertagen. Andere spielten Fußball, er las. Der Vater, ein Lokalredakteur aus dem Süddeutschen, nannte seine drei Söhne: Jörg-Jochen, Jens-Jörn, Jan-Jürgen.

Nach ein paar Semestern Psychologie in Freiburg zog es Jan in die große Stadt, weit weg von der badischen Biederkeit. An der Freien Universität wollte er studieren, zuerst Medizin, dann viele Jahre Germanistik und Philosophie.

„Ich sehe gar nicht ein, mit dem Studieren aufzuhören, solange die Gesellschaft mir erlaubt, genau das zu tun, was mir liegt, nämlich lesen“, so sprach er. Doch nach 32 Semestern war die Geduld der Gesellschaft zu Ende. Jan, längst Germanist, wenn auch ohne Schein, schrieb in wenigen Wochen eine Magisterarbeit über das Spätwerk von Arno Schmidt. Sein Professor gab ihm nach der mündlichen Prüfung nicht nur eine Eins, sondern auch ein wehmütiges Kompliment mit auf den Weg: Er fürchte, in den nun anbrechenden Zeiten des straffen Bachelor-Studiums werde er kaum wieder ein so interessantes Gespräch mit einem Absolventen führen können.

Ein Berufseinsteiger mit exzellentem Abschluss, 46 Lebensjahren und einer kenntnisreichen Leidenschaft fürs Literarische. Bisher hatte Jan sein Auskommen mit Studentenjobs gefunden, als technischer Redakteur hatte er Gebrauchsanweisungen geschrieben, als Putzmann im russischen Reisebüro „Intourist“ am Olivaer Platz gearbeitet. Im November 1989 hatte er dort die Nacht des Mauerfalls mit viel Wodka im Kreise von KGB-Agenten erlebt. Ein Job war ihm zur Herzensangelegenheit geworden: Er passte auf die Kinder von Freunden auf. Babysitting konnte man das eigentlich nicht nennen, denn zu klein durften die Kinder nicht sein. Jan legte Wert darauf, sich mit ihnen unterhalten zu können. Vom Aufpasser zum Hauslehrer, Mentor und Freund; seinen ersten Schützling begleitete er fast zwanzig Jahre.

Germanisten ahnen oft nicht, dass Bücher auch eine Ware sind, die verkauft werden muss. Der bescheidene Jan Jenrich, der in seinem Leben niemals darüber nachgedacht hatte, wie er aus einer Situation Profit schlagen konnte, war ein begnadeter Verkäufer. Als Kneipenmensch mit einem großen Kreis an Freunden und Bekannten war es ihm gelungen, ein Volontariat bei einem kleinen Berliner Verlag zu bekommen. Selbstverständlich wollte er ins Lektorat, mit Texten arbeiten. Aber in einem kleinen Verlag machen alle alles, und wenn Jan nach einer Lesung oder auf einer Messe am Büchertisch stand und von seinen Autoren und ihren Werken erzählte, dann leuchteten die Augen und die Kasse klingelte. Sein Enthusiasmus steckte an, wenn er ein Buch gut fand, dann fand er es großartig.

Nach dem Volontariat arbeitete er als freier Lektor weiter. Für seine Freunde blieb er auch jetzt, mit etwas mehr Geld und deutlich weniger Zeit, derselbe warmherzige und kluge Mensch. Aber ein paar Veränderungen fielen doch auf. Der stoische Handyverweigerer, der sich immer gegen diese „elektronischen Fußfesseln“ gewehrt hatte, besaß neuerdings einen Facebook-Account. So konnte er mit den Kollegen in Kontakt bleiben und immer sehen, was los war im Literaturbetrieb. Jan blühte auf, er wurde gebraucht, er war angekommen. Er freute sich auf Reisen, die ihm früher nicht möglich waren, machte Pläne.

Der jungen Schriftstellerin Lisa Kränzler fällt es schwer, sich an diesem sonnigen Donnerstagmorgen in ein Kärntner Fernsehstudio zu setzen und ihren Text vorzulesen. Aber sie ist sich sicher: Ihr Lektor hätte es so gewollt.

Er war in der Nacht vor der Lesung gestorben, schlafend in seinem Klagenfurter Hotelzimmer. Es hatte keine Anzeichen gegeben, keine Krankheit, von der jemand etwas geahnt hätte. Über den Preis, den seine Autorin gewann , wäre er sehr glücklich gewesen, selbstverständlich. Es war auch sein Preis. Sebastian Rattunde

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