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Neue Heimat. Viele minderjährige Geflüchtete fühlen sich inzwischen in Deutschland Zuhause. Ihre Eltern haben viele seit Jahren nicht gesehen und werden sie auch so bald nicht wiedersehen.

© Daniel Karmann/dpa

Jahresbilanz 2020 zu jungen Geflüchteten: Familien schickten 500 Kinder nach Berlin – sogar Babys und Säuglinge

Täglich kommen zwei Minderjährige in Berlin an. Die Eltern wollen oft über Familiennachzug folgen. Das Landesjugendamt zahlt 8500 Euro pro Kind pro Monat.

Viele Eltern und Kinder verdrücken Tränen, wenn es - vor und nach Corona - für ein paar Tage Klassenfahrt heißt, Abschied zu nehmen. Unvorstellbar, was es für ein Kind und die Eltern bedeutet, Tausende Kilometer entfernt voneinander zu leben, oft über Jahre hinweg. Nur Videotelefonate über Whatsapp bieten ihnen Nähe. So sind in Berlin im Jahr 2020 rund 500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ohne Mutter oder Vater angekommen.

Mit Stand vom 13. Dezember wurden seit Jahresbeginn 491 junge Menschen in der Erstaufnahmeeinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) erfasst. „Somit wurden durchschnittlich alle zwei Tage drei Jugendliche registriert“, teilte die Pressesprecherin der Senatsjugendverwaltung, Iris Brennberger, dem Tagesspiegel mit. Der Rückgang im Vergleich zum Vorjahr sei hauptsächlich auf die durch Covid- 19-bedingten niedrigeren Zahlen der Erstaufnahmen im ersten Halbjahr zurückzuführen.

Seit August kamen wieder im Schnitt zwei junge Menschen am Tag, die Wochen, Monate oder Jahre unterwegs waren, oft über weite Strecken zu Fuß oder versteckt in Verkehrsmitteln. Die vom Landesjugendamt in diesem Jahr erfassten jungen Menschen waren vorrangig Staatsangehörige aus Afghanistan (28 Prozent), Vietnam und Syrien (jeweils 11 Prozent), Gambia, Guinea (jeweils 5 Prozent), Marokko, ungeklärt (zumeist palästinensische Flüchtlinge ohne Staatsangehörigkeit), Russische Föderation, Ukraine, Algerien, Tunesien (jeweils 2-3 Prozent). Die übrigen jungen Menschen (25 Prozent) hatten die Staatsangehörigkeit von 30 weiteren Staaten.

Sogar Babys gelangen ohne Vater und Mutter hierher

Sogar Säuglinge und Babys ohne Eltern wurden vom Landesjugendamt in Obhut genommen: Drei Prozent der Kinder waren unter drei Jahre alt, zwei Prozent zwischen vier und fünf Jahren, 16 Prozent zwischen sechs und 13 Jahren, Knapp über die Hälfte gaben an, 14, 15 oder 16 Jahre alt zu sein, 28 Prozent sagten, sie seien 17 Jahre alt.

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In den Erstgesprächen mit Dolmetscherhilfe, die vom Amt bezahlt wird, gaben die jungen Menschen aus Afghanistan und dem Nahen Osten häufig Routen nach Berlin über die Balkanländer - in unterschiedlichem zeitlichen - Rahmen an. Junge Menschen aus Afrika beschreiben laut Iris Brennberger meist die Einreise über Italien und Spanien. Kinder und Jugendliche aus Vietnam, der Russischen Föderation, der Ukraine und Weißrussland erzählen oft davon, dass sie auf dem Landweg durch osteuropäische Länder nach Berlin gekommen seien. Kinder unter sechs Jahren berichten, sofern sie sich schon ausdrücken können, dem Dolmetscher davon, dass sie mit einem Flugzeug gekommen sind.

Die Anteile aller erfassten Mädchen und Jungen lag 2020 wie in den vergangenen Jahren bei etwa 14 Prozent weiblichen und 86 Prozent männlichen unbegleiteten Minderjährigen, berichtet Brennberger. In 2020 wurden insgesamt 26 Kinder und Jugendliche aus griechischen Flüchtlingslagern auf Lesbos, Kos und Samos in Berlin aufgenommen - 22 aus Afghanistan und vier aus Syrien. Das jüngste Kind war acht, der älteste Jugendliche 17 Jahre alt. Nach Erkenntnissen des Tagesspiegels schicken afghanische Eltern ihre Kinder oft nach Deutschland, damit diese dort eine bessere Zukunft haben, oder die Jugendlichen wollten es selbst. Arabische Jungen werden meist vorgeschickt, damit über deren späteren Asyl- oder Schutzstatus die Kernfamilie auf dem Wege des Familiennachzugs nachfliegen kann. In Berlin und Deutschland dürfen nur Vormünder an Eltern statt das Asylverfahren starten.

Hartes Leben zu Zeiten von Corona, weil Halt fehlt

Laut Brennberger habe die Corona-Pandemie die Begleitung der Integrationsschritte durch die Experten mit besonderen Herausforderungen verbunden, denn in den Jugendhilfeeinrichtungen musste Corona zusätzlich zu den Fragen der regulären Gesundheitsversorgung besprochen werden. Schulschließungen, Homeschooling, Schließung von Freizeiteinrichtungen und weitreichende Kontaktbeschränkungen auch für das Betreuungspersonal seien dabei oft ein großes Problem, denn junge Menschen, die als unbegleitete Minderjährige einreisen und in der Jugendhilfe aufgenommen werden, verfügen häufig im Vergleich zu Gleichaltrigen über weniger Ressourcen und enge Bindungspersonen, die sie beim Aufwachsen und in der Persönlichkeitsentwicklung unterstützen könnten.

Nach der Ankunft in Berlin beginnt das sogenannte Clearing; man prüft, wie Gesundheits- und Bildungsstand sind, ob die Familie nachreisen will, welcher Vormund an Eltern statt gestellt wird, ob vom Amt, von einem Verein, oder ob es ein Ehrenamtlicher ist.

Unbegleitete minderjährige Geflüchtete werden dann gemäß den „Ausführungsvorschriften über die Gewährung von Jugendhilfe für nicht durch Personensorgeberechtigte begleitete minderjährige Flüchtlinge (AV-UMF)“ nach einer festgelegten Quote einem bezirklichen Jugendamt zugewiesen, das nach der Clearingphase die weitere Unterbringung organisiert. Das Jugendamt entscheidet je nach Bedarf des einzelnen Minderjährigen über Art und Umfang der Betreuung. Eine statistische Erhebung, wie viele UMF in betreutem Jugendwohnen im Heim, Hostel, oder Pflegefamilie leben, hat Berlin nicht.

An den Kosten, die Berlin pro aufgenommenem Kind oder Jugendlichen ohne Eltern hier entstehen, habe sich seit dem Willkommensjahr 2015 nichts geändert. Bei der Inobhutnahme durch die Senatsjugendverwaltung liegen die Kosten für Unterbringung eines unbegleiteten Jugendlichen und für die Betreuung weiter bei 8000 bis 9000 Euro im Monat. Dieser Betrag sinkt, wenn das Kind einem bezirklichen Jugendamt zugeleitet wird.

Nach Tagesspiegel-Erfahrungen sind die Lebensläufe so unterschiedlich wie die jungen Menschen selbst. Manche wollen unbedingt wieder zu den Eltern zurück, einige haben die ihnen auferlegte Aufgabe des Familiennachzugs erfolgreich erledigt. Manche werden angesichts von seelischen Traumata kriminell und depressiv, andere machen Abitur oder eine Ausbildung im neuen, glücklichen Leben.

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