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Irek Wijata (1959-2018).

© privat

Irek Wijata (Geb. 1959): Es muss immer alles sein, alles auf einmal

Ministrant? Gerne. Wenn genügend Augen auf ihn gerichtet sind. Nur lieber nicht für die Morgenmesse.

Ein Fanfarenstoß. Kurz, kräftig, unüberhörbar. Ein Signal. Eine Verkündigung. Hört her, alle Mann: Hier bin ich! Oto jestem! Und dann steht er da, Irek, unübersehbar mit all seiner Energie. Schlank, dunkles Haar, dunkle Augen, strahlend. Er lockt. Er lässt sich verlocken.

Die große Bühne, auch im Kleinen. Obwohl sie zu klein dann doch nicht sein darf.

So war das immer. Irek, sechs Jahre, Ministrant. Alle Augen in der voll besetzten Kirche in Opoczno, 100 Kilometer südlich von Warschau, auf ihn gerichtet: Hier bin ich! Aber die Morgenmesse früh um sechs vor ein paar Mütterchen? Nein. Da schmeißt er hin.

Andere Bühnenauftritte müssen her. Als Gymnasiallehrer. Als stellvertretender Schuldirektor. Als Leiter des polnischen Pfadfinderverbandes. Im Grand Hotel in Lodz, an seiner Seite eine Frau zum Niederknien. In den Bars, die Männer. Auf der Tribüne während des 1.-Mai-Aufmarsches. Sein Freund, sein Lebensmensch, im Auto auf dem Weg zurück nach Deutschland, ist zu schnell unterwegs. Die Polizei winkt ihn an die Seite: „Woher kommen Sie?“ – „Aus Opoczno.“ – „Haben Sie dort Freunde?“ – „Ja, Herrn Wijata.“ – „Den Lehrer Wijata? Na, dann können Sie weiterfahren. Dann sehen wir von einer Strafe ab.“

Er ist offen schwul

Die Kreise, die Irek zieht, werden größer. Raus aus den ein, zwei Städten, hinein ins ganze Land. Neue Bühnen. Er schaltet eine Annonce, die erste schwule Kontaktanzeige in Polen überhaupt. Die Antworten kommen waschkörbeweise. Er nimmt den Bus, in alle Himmelsrichtungen, pausenlos. Er faltet eine Karte auf: Dort war ich und dort und dort … Er ist offen schwul, auch als Lehrer. Dazu voll Witz. Während einer Orthografielektion schimpft er: Überall diese fehlerhaften Graffiti an den Wänden. Huj, was soll das sein? Nein, man muss das Wort verlängern, vor das h gehört ein c, chuj, sonst ist es kein „Schwanz“.

Die Atmosphäre im kommunistischen Polen ist freisinnig. Im nachkommunistischen Polen ändert sich das, auch wenn sie jetzt einen „Christopher Street Day“ in Warschau feiern. Schwulenbars verschwinden, die Stimmung wird repressiver. Irek wird unter dem Vorwand, er habe seine Schüler falsch benotet, zum Berufsschullehrer degradiert. Seine Tante ist Stadträtin, sie setzt sich für ihn ein, und so darf er ans Gymnasium zurückkehren.

Seine Funktion als stellvertretender Direktor gibt er auf. Weil er, einerseits, zu viel Arbeit prinzipiell nicht mag. Das Wort „Karriere“ ist ohne Belang für ihn. Denn es geht ja auch so, die Dinge fliegen ihm zu, immer schon: Mit vier konnte er lesen und rechnen, mit 14 versank er in Tolstoi und Dostojewski, im russischen Original.

Jetzt, endlich, will er kochen

Weil er, andererseits, die Liebe findet. Er braucht mehr Zeit, die gesamte Sommerferienzeit. Nicht nur einen Monat, sondern die kompletten zwei, was er sich in gehobener Stellung nicht erlauben dürfte. Er braucht die Zeit für den Mann, der am Warschauer Flughafen seinen Blick erwidert hat. Ein Erkennen. Eine Lebensliebe. Jahrelang als Fernbeziehung, Köln – Opoczno, später Berlin – Opoczno. Immer die Sehnsucht in den Tagen, Wochen dazwischen. Eine Intensität, die manchmal kaum mehr auszuhalten ist. Dazu die Zigaretten, das Bier, Irek kann nicht maßhalten, immer muss es alles sein, alles auf einmal.

Nach dem Tod der Mutter, bei der er all die Jahre wohnte, und nach dem Tod des Vaters zieht er nach Berlin. Endlich eine gemeinsame Wohnung, endlich Alltag. Ein Restaurant in Berlin, davon träumt er. Er will kochen, wollte es seit jeher, was jedoch nicht ins bürgerliche, ehrgeizige Bild der Eltern passte. Studieren sollte er, Polonistik, und im Grunde hatten die Eltern ja auch recht, denn im Grunde war er doch ein Geistesmensch. Aber jetzt, endlich, will er kochen. „Zum Eulenwinkel“ heißt die Gaststätte, die er übernimmt, Wiener Schnitzel, Tafelspitz, Bigos, Piroggen, von Österreich nach Polen. Er kocht gut, aber der Standort ist ungünstig, die Gäste kommen zu spärlich. Und es ist auch mehr Arbeit, als er dachte. Die Energie schwindet, dazu die Zigaretten, das Bier, die fehlende Bewegung. Keine Fanfare mehr, Irek zieht sich zurück in die Wohnung, vor den Computer. „Ich träume von einem Häuschen auf Teneriffa“, sagt er. Ebenso gut könnte er von einem in der Antarktis träumen, denn er geht so oder so nicht mehr raus.

Es gibt zwei Passfotos von Irek: Auf dem einen, 2002 entstanden, kann man sich seinem funkelnden Blick kaum entziehen. Von dem anderen, 2018, wendet man sich ab. Zu traurig.

Als sein Mann, sein Lebensmensch, verreist ist, legt sich Irek in sein Bett und stirbt.

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