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Olaf Schulte-Herbrüggen leitet die Trauma-Ambulanz Berlin.

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Interview mit Trauma-Experte: "Es hilft den Betroffenen, wenn man ihnen ihre Symptome erklärt"

Angst, Trauer, Wut, Taubheitsgefühle: All das sind normale Reaktionen auf ein extremes Erlebnis. Was hilft Gewaltopfern und Angehörigen? Ein Gespräch mit dem Leiter der Trauma-Ambulanz Berlin.

Herr Schulte-Herbrüggen, Sie leiten die Trauma-Ambulanz Berlin. Wer kann zu Ihnen in die Sprechstunde kommen?

Wir bieten schnelle psychologische Hilfe für Erwachsene, die Opfer einer Gewalttat wurden. Auch Angehörige und Personen, die Zeugen einer Gewalttat wurden und unter einer psychischen Belastung leiden, können sich bei uns melden. Man braucht keine Genehmigung, und es entstehen keine Kosten. Grundlage unserer Arbeit ist das Opferentschädigungsgesetz. Das besagt, dass der Staat, der das Gewaltmonopol hat, für Schäden aufkommen muss, die entstehen, wenn dennoch Gewalt stattfindet.

Wie reagieren Menschen, die einen Anschlag wie den auf dem Breitscheidplatz erlebt haben?

Es gibt ganz unterschiedliche Reaktionen. Manche Menschen haben starke Angst, bei anderen herrscht Trauer oder Wut vor. Es gibt auch körperliche Symptome, wie Taubheitsgefühle oder das Gefühl, neben sich zu stehen. Das alles sind normale Reaktionen auf ein extremes Erlebnis. Es hilft den Betroffenen aber, wenn man ihnen diese Symptome erklärt.

Finden diese Reaktionen direkt nach der Gewalterfahrung statt?

Nicht unbedingt. Es gibt auch Menschen, die erst später ins Grübeln kommen oder Alpträume entwickeln. Manche funktionieren erstmal, weil sie sich vielleicht um verletzte Angehörige kümmern oder eine Beerdigung organisieren müssen. Sie merken erst später, dass sie überlastet sind. Einige Betroffene entwickeln eine Vermeidungshaltung und ziehen sich zurück. Sie haben Angst, rauszugehen oder öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.

Welche Hilfe bieten Sie in der Trauma-Ambulanz an?

Wir vereinbaren zeitnah einen Termin und schauen dann in der ersten Stunde, welche Belastungssituation und welche Symptome vorliegen. Und dann wird ganz individuell geprüft, was den Betroffenen hilft. Wir führen Therapiegespräche durch und vermitteln weitere Hilfsangebote.

Haben Sie nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz Ihr Angebot ausgeweitet?

Wir haben seit gestern unsere Kapazitäten erweitert und können auch Gesprächstermine zwischen den Jahren anbieten.

Wie kann man als Freund oder Angehöriger helfen?

Man sollte immer schauen, welche Bedürfnisse der Betroffene hat. Manche wollen über die Erfahrung reden, andere nicht, dann sollte man das auch nicht forcieren. Oft hilft es, eine gewisse Normalität herzustellen, den Alltag aufrechtzuerhalten. Die Erfahrung, dass das Leben weitergeht, wirkt sich meistens positiv aus.

Gerade ältere Menschen, die vielleicht als Kind noch Kriegserfahrungen gemacht haben, reagieren oftmals ängstlich. Wie kann man ihnen helfen?

Wir bemerken, dass bei älteren Menschen in der aktuellen Situation längst in den Hintergrund getretene Erinnerungen an Bedeutung gewinnen, sie haben Alpträume und bildhafte Vorstellungen von Kriegserlebnissen. Es kann helfen, wenn man sie unterstützt, den Unterschied zwischen der heutigen und der damaligen Situation herauszuarbeiten.

Viele Menschen haben nun Angst, auf Weihnachtsmärkte oder an öffentliche Orte zu gehen. Was können Sie diesen raten?

Das muss jeder individuell abwägen. Alle sind mit der Tatsache konfrontiert, dass die sicher scheinende Umgebung nicht prinzipiell Sicherheit bietet. Diese Situation haben wir aber seit mindestens einem Jahr in Deutschland. Es geht um eine Abwägung von realen Risiken, um die Frage, ob man sich einschränken lässt oder nicht. Wir haben schon länger eine Gefährdungslage, direkt nach Anschlägen wird diese aber häufig überschätzt. Nach einer gewissen Zeit neigen allerdings auch viele dazu, die Gefahr zu unterschätzen. 

Olaf Schulte-Herbrüggen ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet die Trauma-Ambulanz der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus. Diese ist unter der Tel. .: (030) 2311-18 80 erreichbar. Sprechzeiten: Mo-Fr 8-15.30 Uhr, Di, Mi und Fr Telefonsprechstunde von 11-12 Uhr. Große Hamburger Straße 5–11, Mitte. www.alexianer-berlin-hedwigkliniken.de/traumaambulanz.

Das Gespräch führte Sylvia Vogt.

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