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Zu laut, zu viel. Stadtbewohner leiden laut Adli anderthalbmal häufiger an Depressionen als Menschen auf dem Land. Das Schizophrenie-Risiko ist doppelt so hoch.

© imago/Seeliger

Interview mit Psychiater Mazda Adli: Stadtluft macht krank

Bald werden zwei Drittel der Menschheit in Metropolen leben. In Berlin geht es dabei noch relativ entspannt zu. Der Psychiater Mazda Adli über Lärm, Hektik, Isolation, sozialen Stress und die positiven Einflüsse von kulturellen Angeboten.

Herr Adli, Sie sind Psychiater. Bei der Lektüre Ihres Buches „Stress and the City“ dachte ich, das hätte auch ein Soziologe schreiben können.

Bereits Rudolf Virchow hat in seiner Forschung nach gesellschaftlichen und sozialen Ursachen für Krankheiten gesucht. Er sagte: „Medizin ist eine soziale Wissenschaft und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ Als Mediziner muss ich auch immer die Lebensbedingungen der Menschen als mögliche Krankheitsursache im Blick behalten. Und ein Faktor dabei ist das Stadtleben.

Verändert die Großstadt durch ihre Reizüberflutung unser „Geistesleben“?

Das Stadtleben hinterlässt Spuren im Gehirn, die man messen kann. Das Gehirn eines Großstädters reagiert sensibler auf Stress, quasi wie ein Muskel, der ständig trainiert wird. Besonders deutlich sehen wir diesen Effekt übrigens bei Menschen, die in der Stadt aufgewachsen sind.

Macht die Stadt ihre Bewohner krank?

Stadtbewohner leiden anderthalbmal häufiger an Depressionen als Menschen auf dem Land. Auch Angsterkrankungen treten in der Stadt um das 1,2-fache häufiger auf. Am deutlichsten fallen die Unterschiede zwischen Stadt und Land jedoch bei der Schizophrenie aus: Stadtbewohner leiden doppelt so häufig unter dieser Erkrankung, und Menschen, die in der Stadt aufgewachsen sind, sogar nahezu dreimal häufiger als ein Mensch vom Land. Und wenn die Prognose stimmt, dass im Jahr 2050 zwei Drittel der Menschheit in Städten leben, dann sollten wir uns dieses Problems dringend annehmen.

Mazda Adli
Mazda Adli

©  Promo

Was macht die Stadt denn so stressig?

Entscheidend ist der soziale Stress, der aus dem Zusammenleben auf begrenztem Raum resultiert. Meine These ist, dass sozialer Stress in der Stadt vor allem durch eine Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und sozialer Isolation entsteht. Aus dem Tierreich ist Dichtestress als Overcrowding-Stresssyndrom bekannt, das beispielsweise bei Tieren auftritt, die in zu engen Zoogehegen leben. Die Folgen sind Verhaltensänderungen, Reizbarkeit oder Aggressivität. Die Gleichzeitigkeit von Dichte und Isolation kann man sich vorstellen, wenn etwa jemand immer den Lärm seines Nachbarn hört, aber nie mit ihm ein Wort wechselt, wenn sie einander begegnen. Die Folgen von sozialer Isolation sind übrigens besonders gravierend. Metaanalysen zeigen, dass soziale Isolation das Risiko eines vorzeitigen Todes stärker erhöht als Rauchen, Alkohol oder Übergewicht. Besonders belastend ist sozialer Stress für uns dann, wenn wir das Gefühl haben, der Umgebung ausgeliefert zu sein und nichts daran ändern zu können.

Zwischen Mumbai und München liegen Welten. Unterscheiden sich solche Städte auch in der psychischen Gesundheit?

Lange Zeit lagen epidemiologische Zahlen nur für die Städte des globalen Nordens vor. Eine neuere Metaanalyse zeigt nun aber, dass es in den Städten des globalen Südens keinen Risikounterschied für Schizophrenie zwischen Stadt und Land gibt. Das ist überraschend, wenn man sich klarmacht, dass gerade im globalen Süden die gigantischen Megacities unserer Welt liegen. Mein Kollege Rainer Hehl, Architekt und Stadtplaner an der TU Berlin und ETH Zürich, zeigt am Beispiel der Favelas in São Paulo, dass dort aufgrund relativer Armut und infrastruktureller Probleme die Menschen auf ein funktionierendes Miteinander angewiesen sind. Dazu kommen lokale, kulturelle Aktivitäten, die den Zusammenhalt fördern.

Sie sind seit über 20 Jahren Wahl-Berliner. Was gefällt Ihnen an der Hauptstadt?

Berlin macht vieles ganz gut. Es gibt ein großes kulturelles und subkulturelles Angebot. Berlin integriert viel und ermöglicht viel Interaktion zwischen den Menschen. Zudem bietet diese Stadt viel gut funktionierenden öffentlichen Raum und damit Möglichkeiten zusammenzukommen, ohne dafür Geld ausgeben zu müssen. Und trotz des Klischees der Ruppigkeit der Berliner kommt man relativ gut mit anderen Menschen in Kontakt.

Was könnte Berlin besser machen?

Meine Sorge ist, dass im Zuge der Nachverdichtung die öffentlichen Plätze immer weniger werden. Gerade informelle Plätze wie beispielsweise Baubranchen, die nach dem Mauerfall viele kreative Zwischennutzungen ermöglicht haben, verschwinden zunehmend. Solche unfertigen Räume sind für die Anwohner in der Regel attraktiv, weil sie sie nach ihren Bedürfnissen gestalten können. Orte, an denen alles vorgegeben ist, beispielsweise ein Park mit festgeschraubten Bänken und einer Betonkugel als Kunstwerk in der Mitte, werden häufig als viel unattraktiver empfunden.

Was gehört noch dazu?

Zu einer gesunden Stadt auch Kultur. Einrichtungen wie Theater, Museen oder Kleinkunstbühnen bringen Menschen zusammen und regen uns an, vor die Haustür zu treten. Sie sind nicht nur positive Stimulation für Kopf und Sinne, sondern wirken vor allem auch sozialer Isolation entgegen. Das hilft, psychischen Erkrankungen vorzubeugen. Kultur hat also auch einen Public Health-Auftrag. Daher brauchen wir Kultursubvention, damit sie für möglichst viele Menschen zugänglich ist.

[Das Gespräch führte Frieder Piazena. Mazda Adli ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin. Der Psychiater und Stressforscher beschäftigt sich in seinem Buch „Stress and the City“ mit der Frage, welchen Einfluss das Stadtleben auf die Gesundheit hat. Dieses Interview und weitere interessante Artikel rund um psychiatrische und neurologische Themen, beispielsweise zu Winterdepression, finden Sie im aktuellen Gesundheitsratgeber „Tagesspiegel Psyche & Nerven“. Das Magazin kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520 sowie im Zeitschriftenhandel.]

Obwohl Städte den Menschen viel abverlangen, sind Sie der Ansicht, dass das urbane Leben dennoch guttut.

Die Stadt vereint viel mehr Vor- als Nachteile. Bildungsangebot, Gesundheitsversorgung, kulturelles Angebot, Erwerbsmöglichkeiten sind die Stärken unserer Städte. Wissenschaftler nennen das den „urban advantage“, den Stadtvorteil. Aber es gibt Menschen, die eher unter sozialen Stress geraten und gleichzeitig weniger Zugang zu den Vorteilen der Stadt haben.

Zum Beispiel?

Ältere Menschen, wenn sie ihre Mobilität verlieren oder Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund, wenn sie Ausschlusserfahrungen machen. Und um die müssen wir uns kümmern, indem wir beispielsweise eine alters- und kultursensible Infrastruktur fördern.

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