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Vielfältige begabt. Bill Kaulitz hat für seine Band Tokio Hotel eine Kollektion entworfen, und dafür die üblichen Fanartikel aus dem Programm geworfen.

© promo

Interview mit Bill Kaulitz: „Ich war überwältigt von der Aufmerksamkeit“

Der Sänger von Tokio Hotel spricht im Interview über die Schattenseiten des Promilebens, seine Liebe zur Mode und seine alte Heimat Magdeburg.

Warum steht „Magdeburg“ auf einem Ihrer Sweatshirts?

Das ist unsere Heimatstadt. Mein Zwillingsbruder Tom und ich sind mit 15 weg. Die beiden anderen Bandmitglieder Georg und Gustav sind dageblieben. Ich kann das nicht nachvollziehen, aber wir sind halt alle total unterschiedlich.

Das ist vielleicht das Bedürfnis, dorthin zurückzukommen, wo man geerdet ist.
Für sie war es immer ein Rückzugsort. Die konnten einfach rausgehen. Für Tom und mich war das ganz schnell unvorstellbar. Meine Eltern wohnen noch dort, aber mein Zuhause ist Los Angeles.

Aber Sie sind oft in Berlin.
Ja, wenn Deutschland, dann Berlin. Aber ich habe hier keinen Wohnsitz. Die Leute haben das Gefühl, sie sehen mich total oft, aber ich war immer nur bei Zwischenstopps während einer Tour hier. Unsere Produktionsfirma sitzt hier.

Während der letzten Berliner Fashion Week hat man Sie oft gesehen.
Mode war meine zweite Leidenschaft neben der Musik. Ich habe früher gezeichnet und Sachen genäht.

Das heißt, als Sie noch ganz klein waren.
Ja, in der Schule wollte ich immer besondere Sachen haben, aber wir hatten kein Geld für teure Klamotten. Darum habe ich immer billige T-Shirts gekauft, und meine Mama musste an ihrer Nähmaschine sitzen und was Neues daraus nähen. Ich habe auch in unserem allerersten Video eine selbstgemachte Hose an.

Die Abgrenzung zwischen Junge oder Mädchen hat Sie dabei nicht interessiert?

Gar nicht, und dafür habe ich richtig auf den Sack bekommen. Oft gab es in den Mädchenabteilungen schöne Sachen und für Jungs nur einen kleinen Ständer in Olivgrün. Da habe ich schon ganz früh gesagt: Ich kaufe das einfach in einer anderen Größe, das weiß ja kein Mensch. Das mache ich bis heute so.
Das ist gar nicht die erste Mode, die Sie selbst gemacht haben?
Ich habe immer die Bühnenoutfits für mich entworfen und auch die Bühnenklamotten für die anderen Jungs, die haben da keinen Bock drauf.

Warum gibt es jetzt eine eigene Tokio-Hotel-Kollektion?
Wir wollten weg von dem normalen Band-Merchandise, das fand ich langweilig. Also habe ich einen Kapuzenpullover entworfen. Ich wollte etwas, das wir alle tragen können. Manche Fans regte das auf, es ist halt ein bisschen teuer. Die wollen ein T-Shirt mit meinem Gesicht drauf für 25 Euro, aber das gibt es jetzt nicht mehr.

Akzeptiert Ihr Bruder Ihren Hang zur Mode?
Mit 13, 14 hat er sich ein paar Mal geschämt und wollte nicht mit mir raus. Er war in der Hiphop- und Skaterszene unterwegs. Vor seinen Kumpels mit dem Bruder aufzutauchen, der lackierte Fingernägel hat, war schwierig. Meistens hat er aber zu mir gehalten, er war ja auch extrem auf seine Art, wir haben uns gegenseitig das Selbstbewusstsein gegeben.

Wie hat sich das Experimentieren mit der großen Aufmerksamkeit entwickelt?
Manchmal denke ich: Oh Gott, was würde ich tun, wenn ich meinen Beruf nicht hätte. Ich bin dankbar, dass ich auf der Bühne diese krassen hohen Schuhe und extravaganten Outfits tragen kann. Ich wüsste gar nicht, wo ich das sonst ausleben könnte.

Vor zehn Jahren war Ihr androgynes Aussehen ungewöhnlicher. Reagieren die Leute heute anders auf Sie?
Ich habe das Gefühl, dass ich für viele immer jung bleibe. Ich bin das Kind, das „Monsun“ gesungen hat. Aber klar machen wir heute andere Sachen, und ich bin wesentlich entspannter. Damals war ich sehr überfordert von der Aufmerksamkeit. Mir war auch nicht bewusst, was ich mit manchen Dingen auslöse. Als dann die ganzen Fragen nach der sexuellen Orientierung kamen, wusste ich keine Antworten. Ich war überwältigt davon, wie wahnsinnig wichtig das für die Leute war. Heute kann ich damit umgehen und damit spielen.

Sind Sie ein Vorbild?
Das wurde mir erst viel später bewusst. Früher hatte die Plattenfirma ein riesiges Problem damit, dass ich immer extremer wurde: Die Haare wurden immer größer, die Nägel immer länger. Es hieß: Der ist nicht mehr nahbar, das können die Leute nicht mehr verstehen. Man wollte mir vorschreiben, wie ich auszusehen hatte. Aber ich war ein Rebell, also waren meine Haare am nächsten Tag noch größer und ich hatte noch mehr Makeup drauf. Mein Aussehen war das Einzige, das ich kontrollieren konnte, das wollte ich mir nicht nehmen lassen. Diese Selbstbestimmung war mir wichtig.

Das war ein sicherer Ort wie für die anderen Bandmitglieder Magdeburg.
Ja, und das mit der Vorbildfunktion wird mir erst heute bewusst, wenn wir in Russland unterwegs sind. Da kommen extravagant gestylte Jungs zu den Konzerten oder ein schwules Pärchen, die sagen: Ohne dich hätte ich mich nie getraut. Das berührt mich heute ganz anders als mit 15 Jahren.

Das Gespräch führte Grit Thönnissen

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