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Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD).

© Britta Pedersen/dpa

Interne Wahlanalyse: Welche Probleme sieht die Berliner SPD?

Nach dem Wahldebakel im September hat die Berliner SPD eine selbstkritische Analyse vorgelegt. Auf 16 Seiten formulieren sie 33 Thesen für eine Reform.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Dreieinhalb Wochen nach der Berliner Wahl, die der Berliner SPD mit 21,6 Prozent das schlechteste Ergebnis seit 1945 einbrachte, legte eine parteiinterne Arbeitsgruppe einen 16-seitigen Bericht mit 33 Thesen vor, in dem die Ursachen der Wahlschlappe selbstkritisch analysiert wurden. Das Papier soll nun in den Kreis- und Ortsverbänden der SPD diskutiert werden. Andere Parteien in Berlin sind diesem Beispiel bisher nicht gefolgt. Wir fassen die wichtigsten Aussagen der Wahlanalyse zusammen.

Umgang mit den AfD-Wählern

Mit Ausnahme der Flüchtlingspolitik hätten aktuelle Bundesthemen für die Berliner Wahl keine dominante Rolle gespielt. Der AfD-Bundestrend hätte trotzdem in Berlin durchgeschlagen. Es seien zwar nur wenige Wähler von der SPD zu den Rechtspopulisten gewechselt, aber wegen der hohen Aktivierung der Nichtwähler habe sich dies auf das SPD-Ergebnis ausgewirkt. Das Wählerpotenzial der AfD bleibe für die SPD interessant, da es sich nicht nur um reine Protestwähler oder Rechtsextreme handele.

Verhältnis zur Bundes-SPD

Die Lage in der Bundes-SPD habe für das Wahlergebnis keine Bedeutung, trotzdem sei es empfehlenswert, dass sich die Berliner Sozialdemokraten in der Bundespartei mit ökonomischen und sozialpolitischen Themen stärker einbringen. Das gelte beispielsweise für die Reform der Hartz-IV-Gesetze oder die Diskussion um die Handelsabkommen TTIP und Ceta. Streitpunkte zwischen Bundes- und Landes-SPD sollten klarer kommuniziert werden.

Zersplitterung des Parteiensystems

Die Fragmentierung des Parteiensystems in Deutschland, die in Berlin besonders ausgeprägt sei, spreche zunehmend gegen die Bildung großer Koalitionen mit der CDU, das gelte rechnerisch, aber auch wegen der Gefahr, damit die politischen Ränder zu stärken. Das für die SPD in Berlin erschließbare Wählerpotenzial liege trotz der Parteienzersplitterung bei „eher 30 Prozent“. Besonders bei den Nichtwählern, der Linken, den Protest- und Jungwählern seien Stimmen zu holen. Die neue Unübersichtlichkeit in der Parteienlandschaft stärke im Übrigen die bundespolitische Bedeutung der kleinen Bundesländer einschließlich der Hauptstadt Berlin, weil die frühere Dominanz der SPD- und CDU-Blöcke im Bundesrat keine so große Rolle mehr spiele.

Probleme beim Regieren

Im Streit um das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) hätte die SPD notfalls einen Koalitionsbruch in Kauf nehmen sollen. Ein klarer Schnitt wäre besser gewesen als der anhaltende Streit mit der CDU seit Dezember 2015. Davon abgesehen habe es Umsetzungs- und Wahrnehmungsprobleme gegeben, die zu einem Verwaltungsversagen in vielen Fällen (zum Beispiel bei den Themen Flüchtlinge, Schulsanierung, Bürgerämter) geführt hätten. Unter dem Eindruck der „failed City“ seien positive Entwicklungen nicht mehr wahrgenommen worden. Die Berliner SPD müsse frühzeitiger auf Probleme reagieren und wahrnehmbare Verbesserungen schaffen.

Profil der Berliner SPD

Die junge und urban orientierte Zielgruppe der Neu-Berliner entwickle keine besondere Affinität zur „regierenden Berlin-Partei“ SPD. Die Gründe müssten näher untersucht werden. Außerdem hätten die Sozialdemokraten ein Glaubwürdigkeitsproblem in Sachen soziale Gerechtigkeit, das besonders in den Hartz-IV-Gesetzen des Bundes und in der Spar- und Privatisierungspolitik in Berlin begründet sei. Aus sozialpolitischen Gründen müsse die Haushaltspolitik neu ausgerichtet werden – beispielsweise zur Bekämpfung von Armut und prekärer Beschäftigung, für eine bessere Entlohnung im öffentlichen Dienst oder kostenfreie Bildungsangebote. Soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit seien wesentliche sozialdemokratische Leitbilder. Für Menschen einfacher und mittlerer Einkommensschichten müssten politische Versprechungen „relevant und absehbar“ erfüllt werden.

Neustart im Senat

Eine „Neujustierung“ der Regierungspolitik in Berlin reiche nicht aus, es bedürfe eines „als substantiell wahrgenommenen Neustarts“ mit Rot-Rot-Grün. Nach mehreren Jahrzehnten in der Regierungsverantwortung müsse gerade die SPD ein Interesse daran haben. Notwendig sei eine Abkehr von der Kürzungspolitik, die Konsolidierung des Berliner Landeshaushalts sei kein originäres politisches Ziel. Die Personalentwicklung in der Senats- und Bezirksverwaltung und ein sozial ausgerichtetes Investitionsprogramm müssten künftig Vorrang haben.

Notwendig sei auch eine „neue Fehlerkultur“, die es ohne Gesichtsverlust erlaube, Fehler der Vergangenheit im Regierungsbetrieb einzugestehen und zu korrigieren. In der neuen Koalition müsse die SPD „klare Referenzprojekte“ definieren, gut vermarkten und in absehbarer Zeit umsetzen.

Neues Koalitionsmanagement

Das rot-rot-grüne Bündnis müsse im Konsens und gegenseitigen Respekt geführt werden. Alle drei Partner bräuchten „Luft zum Agieren, Punkten und Abschließen gemeinsam verabredeter, aber in Eigenverantwortung umzusetzender Projekte“. Kein Koalitionspartner dürfe nur für „das Gute“ zuständig sein, sondern müsse potenziell auch für Unpopuläres haftbar gemacht werden können. Trotzdem solle die SPD in der Koalition eine „kooperative Meinungsführerschaft“ aufbauen, als stärkste Kraft dürfe sie dabei nicht die konservativen Themen besetzen, also als Bremser auftreten. Sie müsse nach vorne treiben und punktuell Akzente gegen den „eigentlichen politischen Gegner“, die CDU, setzen.

Das Müller-Problem

Dem Regierenden Bürgermeister und SPD- Landeschef wird vorgeworfen, im scheidenden SPD/CDU-Senat zum „Streiter in einer zerstrittenen Koalition“ geworden zu sein, anstatt die Rolle des zusammenführenden Landesvaters zu übernehmen. Michael Müller genieße zwar in der Bevölkerung hohe Anerkennung und habe ein positives Image, das weniger auf Glamour als auf bürgernahes und pragmatisches Regieren setze. Wenn sich aber die Probleme einer sich blockierenden Streit-Koalition mit objektivem Verwaltungsversagen mischten, dann fehlten im Alltag sowohl der Glamour als auch die Problemlösung.

Das Erscheinungsbild der Partei

Der von Müller erzwungene Wechsel im Parteivorsitz – im Mai löste er den Parteilinken Jan Stöß als Landeschef ab – habe trotz kritischer interner Diskussion keinen wahrnehmbaren Einfluss auf das Wahlergebnis gehabt. Künftig müsse die Rolle und Bedeutung der Partei „auch in Zeiten der Personalunion von Vorsitz und Senatschef“ gestärkt werden, um parallel zu Regierung und Fraktion breit wirken zu können. Gefordert wird auch eine Verstärkung der parteipolitischen Präsenz in den Wahlkreisen. Notfalls mit Hilfe persönlicher Patenschaften. Außerdem solle der Landesverband sich mehr um die östlichen Außenbezirke kümmern.

Michael Müller muss sich um viele Baustellen in der SPD kümmern.
Michael Müller muss sich um viele Baustellen in der SPD kümmern.

© imago/IPON

Die Rolle der Parlamentsfraktion

Eine starke, eigenständige Fraktion sei immer ein Gewinn und diene der Gesamtprofilierung der SPD, sofern eine enge Abstimmung mit dem Senat erfolge. „Inkonsistenzen“ zwischen Fraktion und Senat habe es in der Vergangenheit nur in wenigen Fällen gegeben. Gelobt wird die SPD-Fraktion, weil sie in Kooperation mit der CDU und als Ergebnis der jährlichen Klausuren neue Projekte auf den Weg gebracht und politische Debatten angestoßen habe. Auch in Zukunft solle die Fraktion „wie bisher“ Ziele und Projekte definieren und mit Senat und Bezirken abstimmen.

Skandale und Filz

Die „Serie von Skandalen“, genannt werden McKinsey/Diwell, Großspenden, Filz im Rathaus, Leipziger Platz und Degewo, sei für die Stimmung in der Bevölkerung und das Wahlverhalten relevant gewesen. Die „Summe und Kontinuität der Anlässe“ habe erheblich zu den über Monate abnehmenden SPD-Werten in den Meinungsumfragen beigetragen. Auch der Umgang mit den jeweiligen Reaktionen der Medien sei problematisch gewesen, es habe keine aktive Fehlerkultur „im Sinne einer Entschuldigung oder Rücknahme einer Entscheidung“ gegeben. Das könne auch zum Glaubwürdigkeitsverlust beigetragen haben.

Fehler im Wahlkampf

Kritisch gesehen wird die „zurückgenommene Präsenz“ des SPD-Logos auf den Plakaten. Auch sei der Slogan am Schluss des Wahlkampfs („Wer Müller will, muss SPD wählen“) wenig tauglich gewesen, die ohnehin fragile Parteienbindung in der Stadt zu stärken. Die SPD-Kampagne habe sehr stark auf einen vermeintlich vorhandenen Wohlfühlfaktor und den Wunsch nach Bestandssicherung („Berlin bleibt…“-Slogan) abgestellt, mit konkreten landespolitischen Themen sei nicht gearbeitet worden.

Bei künftigen Wahlkämpfen solle den Kreisverbänden eine „dezentrale Zielgruppenansprache“ erlaubt werden, eine Personalisierung sei sinnvoll, aber nur unter klarem Bezug auf die Partei. Die Koalitionsaussage Müllers für Rot-Grün kurz vor der Wahl habe zwar zuspitzend und medial mobilisierend gewirkt, aber um den Preis einer Wählerverschiebung zugunsten der Linken im Osten Berlins.

Reaktionen auf die Wahlanalyse

Beispielhaft sollen an dieser Stelle ein klassischer Ost- und ein West-Bezirksverband zu Wort kommen. Der SPD-Kreischef in Marzahn-Hellersdorf, Stefan Komoß (linker Flügel) findet die Wahlanalyse sehr gelungen. Sie sei aber nur Auftakt, nicht etwa das Ende der Diskussion. Komoß empfiehlt, auch den Umgang der SPD mit dem Thema „Innere Sicherheit“ zu debattieren, das könne helfen, Wähler außerhalb des rot-rot-grünen Spektrums zurückzuholen.

Der SPD-Kreischef in Reinickendorf, Jörg Stroedter (rechter Flügel), lobt das „sehr verdienstvolle“ Papier ebenfalls. Wie die Genossen in den anderen Kreisverbänden wird er die Analyse jetzt in die Bezirksgremien der SPD geben. Stroedter findet es besonders wichtig, für den Umgang mit der AfD und deren Wähler, „die wir nicht aufgeben dürfen“, eine erfolgreiche Strategie zu finden.

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