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Berlin: Ingrid Hauke (Geb. 1945)

Sie hätte gern noch mehr von der Welt gesehen.

Es geht die Treppe runter, einen schmalen Gang entlang, dann rechts durch die Tür. Hier hatte Ingrid Hauke ihr kleines Reich eingerichtet. Wenn sie Ruhe brauchte, konnte sie sich dorthin zurückziehen. In ihrem Zimmer hatte sie alles ausgestellt, was ihr Leben ausmachte, was sie prägte, wen sie liebte, wonach sie sich sehnte. Sie setzte sich in ihren Sessel, und die Nachmittagssonne schien über den Garten ihres Hauses durch das Fenster in ihr Gesicht. Von hier aus, hatte sie ihr Leben im Blick.

Über dem Schreibtisch hängt ein gerahmtes Foto. Es zeigt ihre Eltern in den vierziger Jahren, da war sie noch gar nicht auf der Welt. Der junge Vater in U-Bootfahreruniform mit Schirmmütze, die Augen ernst, fast wehmütig, als sei er in Gedanken schon wieder auf offener See. Daneben steht ihre Mutter, untergehakt, lächelnd. Neun Monate später sollte Ingrid Hauke auf die Welt kommen. Ihren Vater lernte sie erst fünf Jahre später kennen, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war. Mit den Eltern und dem älteren Bruder wohnte sie in einer Zweizimmerwohnung in Wilmersdorf. Die Liebe, die sie brauchte, holte sie sich von ihrer Mutter. Der Vater war streng und unerreichbar, als hätte er seine Gefühle auf dem Meer gelassen.

Ihren großen Bruder bewunderte sie. Mit ihm ging sie 1967 zur großen Schah-Demonstration, traf den Studentenführer Rudi Dutschke. Aber es war eher das Abenteuer, das sie auf die Straße lockte. In die erste Reihe drängte sie sich nicht, Studentin war sie auch nicht, sie hatte eine Lehre bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte gemacht.

Unter dem Foto auf dem Schreibtisch steht ein kleines Regal mit winzigen Fächern, darin aufgereiht kleine Mitbringsel, goldfarbende Tierfiguren, allerlei Nippes. Wenn ihr etwas gefiel und der Preis stimmte, griff sie zu: bunte Halsketten, silberne Ringe, ein bunter Schal. Schön anzusehen, aber nicht zu auffällig. Einmal kaufte sie sich ein paar grellere Schuhe, die waren ihr später aber zu aufdringlich, und sie traute sich nicht, sie zu tragen.

Über der Plattensammlung in einem Eckschrank das Hochzeitsfoto: Stolz sieht sie aus, mit ihrem Mann im Arm. Kennen gelernt hatten sie sich bei der BfA. Nach wochenlangen Spaziergängen, stundenlangen Gesprächen über Gott und die Welt wusste sie: Den will ich. Acht Jahre sollte es dauern, bis sie ihn bekam. Sie war bereit zu warten und zu kämpfen. Dass es an ihrem Hochzeitstag im August 1983, regnete und stürmte, störte sie nicht. Endlich hatte sie ihn, ihren Mann: tägliche Rituale, die gemeinsamen Fahrten zur Arbeit, und immer wieder reden. Er war ihre wichtigste Konstante im Leben.

Die andere war ihre Arbeit. 45 Jahre blieb sie bei der Bundesversicherungsanstalt, in derselben Abteilung, sie wurde Teamchefin von 30 Mitarbeitern, als sie in Rente ging, kamen hundert Kollegen zu ihrer Abschiedsfeier.

In ihrem Zimmer steht neben dem Sessel auf einem Beistelltisch ein großer Globus. Das Meer liebte sie. Das habe ich von meinem Vater, sagte sie, und obwohl sie die vielen endlosen Spaziergänge mit ihrem Mann an der Nord- und Ostsee genoss, hätte sie gern noch mehr von der Welt gesehen. Doch irgendwie hat es immer nicht gepasst. Als der Arzt sagte, wenn sie noch einen Wunsch haben, sollten sie ihn sich bald erfüllen, da war es längst zu spät.

Als ihr die Haare ausfielen, kaufte sie sich eine Perücke und traf sich weiter mit ihren Freunden. Ihre Krankheit war kein Geheimnis, einmal wurde ihr so heiß, dass sie vor allen die Perücke einfach abnahm und sagte: „So jetzt ist vorbei mit der Schönheit, ich krieg noch Flöhe.“

Es ging ihr schlechter, jeder Schritt fiel schwerer, doch sie wollte noch dabei sein, wenn es ins Kino, in die Oper oder auf eine Feier ging. Wenn einer ihrer Freunde eine schwierige Zeit hatte, dann nahm sie sich die Kraft, hörte zu, schenkte Aufmerksamkeit. Ingrid Hauke gab, was sie noch hatte.

Ihr Ehemann war bis zum Schluss an ihrer Seite. Er wird ihre Urne zum Seebegräbnis tragen. Sie hatten es sich versprochen: Wer als Erster stirbt, wird die Asche des anderen ins Meer streuen.

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