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Berlin: Ingo Fiedler (Geb. 1928)

„Häng die hässliche Tapete weg und schöne Bilder dran an die Wand!“

Er hätte auch ordentlicher Philosoph werden können wie jeder gute Kneipier. Dazu ist eine Kneipe nun mal da, für den gelebten Größenwahn mitsamt Absturzgarantie und für die Tresengespräche über Gott und die Welt über und unter dem Tisch.

Ingo kam in den fünfziger Jahren nach Berlin, weil er die Philosophie nicht länger nur studieren wollte, und lief geradewegs Hertha in die Arme, die ihn, den gut aussehenden Kerl mit den traurigen Augen, umgehend an ihren Busen drückte, zumal er auch Sachse war, was ihr Herz gleich höher schlagen ließ.

Ob nun allerdings ihr Busen oder ihr Herz größer war, darüber stritten sich die Stammgäste leidenschaftlich und wortreich und zur Freude Herthas, die sich gern rühmen ließ, und selbst einen Markus Lüpertz zum Dichten brachte, was ihm nicht so gut gelang wie das Malen.

Mit 2000 Ostmark war sie nach Berlin gekommen und hatte sie rasch in 500 Westmark umgetauscht, was für die Kneipenpacht erst mal reichte. Ihren Sohn hatte sie schon, den Mann fürs Leben fand sie in Ingo, fehlte nur noch der Kellner, der ihr irgendwann in Gestalt von Thadäus zulief, auch ein Sachse, ein rauhbeiniger, Scherz und Seele in Person, der gern mal die Hose runterließ zum Striptease, und ansonsten streng den Gast in seine Schranken wies, wenn es wieder mal nicht schnell genug gehen konnte: „Bin’sch Buddha, hab’sch acht Arme?“

Die Kneipe ist der Ort, wo sich der Weltgeist niederlässt, und zwar in Gläsern, großen wie kleinen, die der Gast beharrlich zu leeren hat, bis es nichts mehr zu sagen gibt, was so gut wie nie vorkam bei Hertha und Ingo.

In Zeiten, da Latte Macchiato als Treibstoff der Genialität gilt, mag man sich gar nicht mehr vorstellen, wie die Künstler damals um die Wette soffen, zum Wohle der Kunst, zum Wehe der Spießer, die Kreuzberg weiträumig mieden. Der Trampelpfad ins Delirium, wie sich der Pilgerweg der Musen damals nannte, führte geradewegs in die „Kleine Weltlaterne“ an der Kohlfurter Straße beim Kottbusser Tor, und alle, alle kamen. Die Rixdorfer Drucker, die Insterburger Blödler, die Kreuzberger Maler und Dichter, die Musiker, alle drängten sich rein. Nicht zuletzt die Omi, die gerade vom Markt kam mit ihrem Rettich und bis zum nächsten Morgen sitzen blieb: „Ein kleines Helles bitte noch!“

Der Umtauschkurs in Sachen Kunst: Molle und Korn. Auch das war Ingos Idee gewesen: „Häng die hässliche Tapete weg und schöne Bilder dran an die Wand!“ – fertig ist die Kneipengalerie. Was Hertha ihren Künstlerfreunden wie folgt übersetzte: „Nu mal mir mal ä baar Bilder. De Wände sin’ so nack’sch!“ Und die Maler malten, große und kleine Bilder, und wenn die Leinwand alle war, malten sie große Kunst auf kleine Bierdeckel und tranken und malten, was ein schönes Einerlei war.

Ingo drückte sich ab und an, wenn ihm alles zu viel wurde, und ging in seinen kleinen Garten, was ja schon Voltaire den Philosophen geraten hatte. Oder er baute eine neue Kneipe aus, oder die alte um, als die „Kleine Weltlaterne“ in der Nestorstraße, Halensee neu aufmachte und alles beim Alten blieb: „Dass man das Trinken nicht verlerne, geht man in die Weltlaterne!“ Einige Kreuzberger blieben weg, dafür kam die Prominenz aus dem nahen Hansa-Tonstudio, der Lindenberg und der Juhnke und der Ich-weiß-nicht-wer, aber Prominenz ließ Ingo weitgehend ungerührt, weil ab dem dritten Bier jeder ein Hauptdarsteller ist. Gute Musik wurde gespielt, live, und noch immer gibt es alle sechs Wochen eine neue Ausstellung, denn der Sohn ist jetzt Chef, und die Fotos an der Wand zeugen von den großen Zeiten, oder wie Ingo es selbst auf seine trockene Art zusammenfasste: „Das war ein richtig ordentliches Stück Kultur.“

Er konnte zufrieden sein. Mehr war für ihn nicht mehr zu tun. Er pflegte seine Hertha, bis sie nicht mehr konnte. Danach konnte er nicht mehr so recht, und er wollte auch nicht mehr. Aber er wusste ja, dass die „Kleine Weltlaterne“ so schnell noch nicht ausgehen würde, nicht, so lange noch Gläser auf sein Wohl gehoben werden, möglichst volle: Prost Ingo! Und Gruß an Hertha! Gregor Eisenhauer

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