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Berlin: Ingeborg von Streletzky (Geb. 1916)

Es war keine gütige Fee, es war harte Arbeit und unbarmherzige Dressur

Ich muss gestehen, dass mich noch nie eine Künstlerin derart beeindruckt hat. Wenn ich Sie spielen höre und sehe, vergesse ich den Alltag mit seinen Sorgen, das Leben erscheint einem dann schön und lebenswert. Ich bin im Titanium-Palast in der Garderobe tätig und benutze jede Gelegenheit hineinzusehen, wenn Sie spielen. Vielleicht erfreut es Sie, zu wissen, dass Sie auch uns Frauen mit Ihrer Kunst viel Freude geben können, von den Herren sicherlich ganz zu schweigen.“

Die Herren waren in der Tat sehr exaltiert, wenn sie die hinreißende Geigerin über die Bühne schweben sahen. Was für eine strahlende Erscheinung! Graziös, mit schlanker Taille, unendlich langen Beinen und weit schwingendem Rock. „Das Publikum hat darauf gewartet, dass ich mich drehe!“

Aber sie achtete streng darauf, „dass die Männer nicht nur gucken.“ Und sie haben nicht nur geguckt, sie haben ihrem Violinenspiel gelauscht , andächtig geradezu.

„Das unaussprechlich Innige Ihrer Musik beim Rias-Mittagskonzert im Kleistsaal ist Offenbarung des tönenden Geheimnisses der Welt. Ich danke Ihnen für Ihre ans Herz und an die Seele dringende Kunst.“

Die Schwärmerei war allgemein, und auch die Kritiker konnten sich dem nicht entziehen: „Wie wandlungsfähig ihr Ton ist, wie perlend oder hingehaucht ihre Pizzikati und Flageoletts, mit welchem rhapsodischen Elan ihr Temperament den Stil der Interpretation entwirft – ich möchte lieber nur sagen: ‚Es war einmal eine gütige Fee, die einer jungen Geigerin …’, so könnte das Märchen beginnen.“

Das Märchen begann anders: Es war keine gütige Fee, es war harte Arbeit und unbarmherzige Dressur. Acht bis zwölf Stunden Üben am Tag. Eigentlich hatte Ingeborg Zeichnerin werden wollen, aber ihr Vater, der sie allein großzog, erkannte früh ihr musikalisches Talent.

Er war selbst Musiker, stammte aus Wien, während sie, da legte sie immer Wert drauf, „eine mit Spreewasser getaufte, waschechte Berlinerin“ war.

In den Zeiten des Stummfilms hatten die Orchestermusiker ein gutes Auskommen. Aber dann geschah das Unglück, ein Gerüst brach über dem Vater zusammen und sein Gehör wurde unwiederbringlich geschädigt. Fortan waren all seine Hoffnungen auf Ingeborg gerichtet.

Wäre da nicht die Tante gewesen, „der liebste Mensch auf der Welt“, ihre Kindheit wäre nur dem Stundenplan gefolgt. „Der Papa ist anderthalb Stunden weg, geh runter spielen!“ Die kleinen Freiheiten. Und der große Ehrgeiz. Virtuosin wollte sie werden, aber da war wieder der Herr Papa, der sich sehr skeptisch gebärdete. Konzerte? Was sie sich denn dächte? Und ob sie wohl glaube, dass sie so viel leisten könne? „Du wirst nie Geld damit verdienen!“ So sein finaler Bescheid.

Sie schwor sich, ihn eines Besseren zu belehren, brach das Studium der Musik ab und gründete mit 17 ihre eigene kleine Combo. Anfangs nur Frauen. Zwei Geigen, ein Cello, ein Klavier. Kein Foxtrott, kein Schlager, nur Klassik – und das im Caféhaus! Wider Erwarten kam sie gut an beim Publikum. Das „Fräulein Kapellmeisterin“ vergrößerte ihr Ensemble und das Repertoire. Der Durchbruch gelang im „Haus Vaterland“, der Großgaststätte am Potsdamer Platz, mit einem Stück vom Kanarienvogel, musikalisch untermalt mit Pfeifen und Geigen. Aber sie wollte mehr, sie wollte die ganz große Bühne.

„Erst habe ich nur mit Damen gearbeitet“, erzählte sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere einem Zeitungsreporter, „aber es ging nicht gut. Frauen im Orchester nehmen Musik nicht so ernst, es ist für sie mehr eine Spielerei. Und dann neun weibliche Wesen unter einen Hut und zu Disziplin zu bringen! Ich schwor mir, nur noch mit Männern zu musizieren und habe es so gehalten. Vorurteilen bin ich mehr als genug begegnet. Teils kamen sie von Artisten, die ich begleiten sollte, und die erst einmal annahmen, mit einer Frau als Dirigentin würde es nie was. Sie haben sich hinterher immer bedankt und entschuldigt.“

„Ingeborg von Streletzky und ihre acht Solisten“, so lauteten die Ankündigungen, und gespielt wurde, was gefiel. Ihre Konzerte waren eine musikalische Reise durch Zeit und Raum, Träume in Dur und Moll. „In mir klingt ein Lied, ein kleines Lied, in dem ein Traum von stiller Liebe blüht für dich allein. Eine heiße, ungestillte Sehnsucht schrieb die Melodie.“

Wer glaubt, dergleichen sei Kitsch, höre sich den Puszta Fox, interpretiert von Zarah Leander, an. Und wer glaubt, die Geige sei nur ein Instrument für höhere Töchter, der sehe Marika Rökk im schmachtenden Duett mit dem seufzend aufspielenden Teufelsgeiger.

Ingeborg von Streletzky galt bald als das weibliche Pendant zu Barnabas von Geczy, dem berühmten Orchesterleiter und „Paganini des 5-Uhr-Tees“. Ein Engagement folgte aufs andere. Dann kam der Krieg, doch auch hier gelang ihr das Unmögliche. Sie brachte sich und ihre männlichen Solisten unbeschadet durch die schwere Zeit, trotz ihrer jüdischen Vorfahren.

„Ist dir das Herz von Sorgen schwer, oder bist du allein und müde, kommt ein Lied von irgendwo her und mit ihm beglückender Friede.“

Als der Friede tatsächlich kam, machte sie einfach weiter Musik. In den fünfziger Jahren war Berlin die Hauptstadt der leichten Muse, und Ingeborg war die Königin. Der Krieg war vergessen: „Jetzt erklingt, was Freude bringt.“ Weil: „Der Berliner liebt Musike!“ Und hübsche Beine. Ihre Bühnenshow war vom Feinsten, auch was ihre Kleider anbelangte. Weißer Duchesse mit rötlichen Blumenmustern war das Material, und der Ullstein-Luxus-Schnitt L4274 lieferte die Anregung. Eingesetzte Plisseeteile gaben dem Rock die schwingende Weite.

„Die Ingeborg, die hat nicht nur Paprika im Blut, sie beherrscht meisterhaft die virtuose Technik.“ Bei besonders „zündenden Synkopen“ schlug sie mit dem linken Bein nach hinten aus. „Welch Temperament hat dieses Geigenweib!“

Oder, ein wenig hausbackener, aber nicht weniger euphorisch vom Kritiker formuliert: „Alles an ihr ist Bewegung, Musik, Harmonie und Scharm. Sie gehört zu den Persönlichkeiten, die nicht nur das Ohr, sondern auch das Auge der Zuschauer erfreuen.“

Auch die Amerikaner waren begeistert. Ingeborg eroberte die amerikanischen Clubs, sie spielte vor General Clay und General Taylor, „erhielt glänzende Angebote nach drüben“ – „ein kleiner, aber sehr charmanter und augenrollender Springteufel“. Aber sie blieb in Berlin. Was sie hielt? „Die Zuneigung so vieler Menschen hier, die mir wunderschöne Briefe schreiben, und meine dankbarsten und liebsten Zuhörer, die Kriegsblinden.“

Wie viele Veranstaltungen sie nicht „mit 1000 muntern Noten“ begleitet hat! Künstlerische Gesellschaftsabende, Teemusiken im städtischen Krankenhaus, Modeschauen, Varietés, die Stiftungsfeste der Berliner Wasserratten, die Winterfeste des Haus- und Grundbesitzervereins – und dann natürlich die Sendungen des Rias und die Plattenaufnahmen.

Später sollte sie klagen, „Ich habe nur gelitten, mit den hohen Absätzen, und mein Arm schmerzte vom immerwährenden Geigehalten“, aber da war viel Koketterie dabei. Wer Filmaufnahmen ihrer Konzerte sieht, der ahnt, mit welcher Leidenschaft sie auf der Bühne stand. Ganz gleich mit wem.

Mit 16 gastierte der Rock ’n’ Roller Addi Jet beim Frühkonzert im Zoo, mit Ingeborg von Streletzky, das Konzert wurde vom SFB-Hörfunk live übertragen. „Ich sang von Bill Ramsey ,Die Zuckerpuppe’, und Ingeborgs Streicher bewiesen, dass sie auch mit Blechblasinstrumenten perfekt umgehen konnten. Alle Geigen machten jetzt Pause und standen brav neben den Notenständern, als ich losrockte. Was war ich stolz, mit diesem Rundfunk-Orchester auftreten zu dürfen! - Im Radio!“

Die Frühkonzerte im Zoo, immer Pfingsten, sechs Uhr morgens: „Wenn man’s nicht zum Vergnügen täte, für Geld täte man's gewiss nicht!“ In Scharen strömten damals die Zuhörer. Pfingsten 1960: 30 000 auswärtige Besucher, 20 000 beim Frühkonzert zu heißen Weisen. „Auf dem Zementparkett wurde geschwooft, dass die Zooameisen ’ne Staublunge bekamen.“

Mit 58 gab Ingeborg von Streletzky das Geigespiel auf, ihrem Sohn zuliebe. Sie war eine reiche Frau, aber sie fühlte sich nur als Verwalterin des Vermögens, nicht als Nutznießerin. Luxus gönnte sie sich selten. Sie fuhr gern nach Locarno und in den Harz, hielt sich einen Hund, aber nur bis sie achtzig war: „Das kann ich dem Tier doch nicht zumuten, dass ich früher sterbe.“

Die Leitmotive ihres Lebens: Disziplin und Melodie. Oder, um einem ihrer bodenständigeren Fans das letze Wort zu lassen: „Dit war ’ne Wolke, die Frau!“ Gregor Eisenhauer

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