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Berlin: Ina Richter (Geb. 1908)

Sag nie: Das kann ich nicht.

Kerzengerade, perfekt geschminkt und wohlfrisiert, das Haar dunkel gefärbt, nimmt sie Glückwünsche und Geschenke entgegen. Ina Richter feiert 100. Geburtstag. Das gepflegte Äußere ist wichtig. Für Leute, zumal in ihrem Alter, die da nachlässiger sind, hat sie kein Verständnis. Wer will, schafft alles, selbst die härteste Diät. Gerne zeigt sie alte Bilder, vergilbte Zeitungsausschnitte, die sie als „Spitzentänzerin“ preisen. Und sie trägt die alten Gedichte vor.

Gemeinsam mit ihrer Schwester ist sie bei der Mutter aufgewachsen. Die hat den beiden eingeschärft: Sagt nie: Das kann ich nicht. Sagt immer: Ich will. Ina wollte viel – und konnte auch viel. Sie wurde Tänzerin.

Im Sommer 1923, sie ist gerade 15 geworden, schreibt sie auf die Rückseite eines ihrer Fotos: „Dem Bild einen Blick, dem Original ein Gedenken.“ Verehrer schicken ihr Blumen und Kärtchen mit warmen Worten. Am Opernhaus an der Bismarckstraße wird Ina Primaballerina, auf Bühnen in ganz Deutschland tritt sie in gemischten Programmen auf zwischen Akrobaten, Revuegirls, Operettensängern und Rollschuhtänzerinnen.

Als sie im Ulmer Varieté „Wintergarten“ gastiert, verliebt sie sich in dessen Direktor E. Th. Salim, einen gut aussehenden Türken. Fortan tritt sie oft in Ulm auf. Anfang 1926 heiraten die beiden, im November kommt Horst zur Welt.

Aber der Gatte zeigt sich eifersüchtig – und hat selbst die Techtelmechtel. Das Paar lässt sich scheiden, Ina zieht mit Horst zurück zur Mutter nach Berlin und tanzt weiter auf Kleinkunstbühnen des ganzen Landes. Sie tanzt zu Gedichten, sie tritt in prächtigen Kostümen auf. Ihre Paraderolle ist die des Fridericus Rex. Sie tanzt zu Marschmusik, und das Publikum tobt. Eine Zeitung bezeichnet Ina, die wieder unter ihrem Mädchennamen auftritt, als „Spitze der Tanzkünstlerinnen“, die „wahre Tanzgemälde von prachtvoller Ausgeglichenheit“ hervorzaubert. Im Krieg schickt die Reichsdienststelle „Kraft durch Freude“ Künstler an die Front. Ina tanzt nun vor Soldaten. Bald kennt man sie auch als Star des Quartetts „5 Singing Ladies“, einer „Glanznummer führender Varietés“.

Horst, inzwischen Hitlerjunge, gehört zum letzten Aufgebot der Wehrmacht. Eine sowjetische Handgranate fliegt in das Loch, in dem er als Melder auszuharren hat, und zerfetzt seine rechte Seite. Er kommt in ein Lazarett bei Eberswalde. Ina und ihre Mutter melden sich dort als Freiwillige. Als die Rote Armee die Verwundeten verlegen lässt, gibt sich Ina als Krankenschwester aus und bleibt bei ihrem Sohn. Sage nie: Das kann ich nicht.

Selbst im Lazarett versucht sie mit Gedichten und Liedern Verwundete von ihren Schmerzen abzulenken. Vom Sterben abhalten kann sie sie nicht. Auch Horst nicht. Er ist gerade 16.

Und Inas Leben geht weiter. Zwei Jahre nach dem Krieg heiratet sie den Charlottenburger Arzt Dr. Albert Richter. Als Soldat hat er Ina auf der Bühne erlebt. Auf die sie nicht zurückkehrt. Sie ist jetzt Arztgattin und hilft in der Praxis. Als Gesellschaftsdame unterhält sie einen großen Freundeskreis. Jeder Besuch ein kleiner Auftritt. Im Winter fährt das Paar Ski in Davos. Und für den Sommer kaufen sie ein Häuschen in Kladow. Als Albert Mitte der sechziger Jahre in den Ruhestand geht, ziehen sie ganz dorthin.

1985 stirbt Albert. Ina ist nun ganz auf sich gestellt. Aber die Absätze ihrer Schuhe bleiben hoch. Bis 1993 fährt sie ihren weißen VW-Käfer. Vier Jahrzehnte hat er durchgehalten. Ina hält länger durch. Mit 92 bekommt sie eine künstliche Hüfte und trainiert so lange, bis sie wieder laufen kann. Sage immer: Ich will.

Jeden Tag spaziert sie zum Groß-Glienicker See. Sie geht zum Kirchenkreis, steht gern im Mittelpunkt, trägt die alten Gedichte vor und lernt neue Menschen kennen. Eine Freundin kauft für sie ein, kocht für sie und hört ihr zu. Mitunter hilft sie ihr auch beim Schminken. Schminken muss sein, täglich.

Mit 101 bezieht Ina ein sonniges Zimmer im Seniorenheim. Als ein Schlaganfall ihren eisernen Willen bricht, ist sie 102. Thilo Bock

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