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„Angenommen, alles geht verloren, verschanze ich mich in Friedrichshain“, sagt der Autor Max Czollek.

© Doris Spiekermann-Klaas

„In der Rigaer Straße fühle ich mich beschützt“: Mit Max Czollek durchs Gefahrengebiet

Wenn „der völkische Dreck“ noch näher kommt, will sich der Autor Max Czollek in seinem Lieblingsbezirk verschanzen. Ein Spaziergang mit einem, der immer kämpft.

Endstation U1, Warschauer Straße: Ein Straßenmusiker spielt etwas von Rio Reiser, Obdachlose rauchen, am Geländer der Warschauer Brücke gelehnt - unter ihnen rauschen die Züge vorbei an der Mercedes-Benz-Arena und der East Side Mall. Im Minutentakt spucken die Bahnen Menschen aus.

Max Czollek geht direkt von der Hochbahn eine Treppe hinunter zur Rudolfstraße: Stille, Gewerbegebiet, leere Gehsteige. Touristen verirren sich selten in den Rudolfkiez. Der Autor und Lyriker ist hier aufgewachsen, in einem Backsteinhaus neben einem Spielplatz, der „so klein geworden ist, dass ich ihn in der Manteltasche herumtragen kann“, wie es in seinem Gedicht „Berlin, Rudolfplatz“ heißt.

Der Dichter steht in der Mitte des Parks, wie eine Statue – er sieht den kleinen Max über die Wiese rennen und wie er hochschaut zur Mutter, die aus dem Fenster neben der Zwinglikirche lehnt, in der zu dieser Zeit der Kindergarten untergebracht war.

Czolleks Familie väterlicherseits verstand sich als „kommunistisch jüdisch“. Der Vater, ein Dichter und Sänger, nahm den Sohn mit in die Schultheiss-Kneipe an der Kreuzung, der Opa Verlagsleiter von „Volk & Welt“, dem wichtigsten Belletristikverlag für internationale Literatur der DDR.

In den Erinnerungen von Max Czollek ein schöner Ort: Der U-Bahnhof Warschauer Straße.
In den Erinnerungen von Max Czollek ein schöner Ort: Der U-Bahnhof Warschauer Straße.

© Doris Spiekermann-Klaas

Neben dem 32-jährigen Max Czollek in der Mitte des Spielplatzes steht eine Bronzeskulptur mit dem Titel „Spielende“. Sie soll zwei balgende Kinder darstellen. Czollek sieht hier Vater und Sohn. Die Erinnerung wird kleiner, aber immer bleiben, nicht nur in der Manteltasche, wo Czolleks Werke Platz finden können: Vor kurzem ist sein dünner Gedichtband „Grenzwerte“ erschienen, der bei Weitem nicht so viel Beachtung erfährt, wie der 2018 veröffentlichte Essay „Desintegriert euch“, der den Autor zum international gefragten Intellektuellen machte. Eine Streitschrift, eine Abrechnung mit der deutschen Leitkultur und dem deutschen „Wir“, das ein „Ihr“ produziert und zwischen „guten“ und „schlechten“ Migranten unterscheidet.

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Czolleks Buch richtet sich gegen eine Gemütlichkeit in der deutschen Erinnerungskultur, alles sei wieder gut nach 1945, die Nationalsozialisten weg, die Demokratie gerettet, der Staat geheilt. „Seit 1989 herrschte das Gefühl, es müsse nichts mehr gemacht werden, die Nachkriegszeit sei vorbei“, sagt er und streicht über die Skulptur. „Aber ich habe schon immer das Gefühl, kämpfen zu müssen. Das bleibt von meiner Familie. Dieses Gefühl, dass man kämpfen muss, damit sich die ganze Nazischeiße nicht wiederholt.“

Mit dem Stift in der Faust

Czollek sieht seine Haltung durch den Aufstieg der AfD und die rechten Terrorangriffe der letzten Zeit bestätigt. Czollek schreibt, und so ähnlich heißt es in seinem Gedicht „Berlin Rudolfplatz“: mit dem Stift in der Faust. Nicht nur aus Wut, sondern auch, weil ihm „die Hand zittert“.

Für Czollek bedeutet Lyrik Sensibilisierung für das einzelne Wort, egal, ob auf Twitter, im Theater oder auf einem Bierdeckel. Kurz nach den rechtsterroristischen Morden in Hanau twitterte er: „Das ist der Sturm, vor dem wir euch gewarnt haben!“

Die AfD könne Spandau haben, aber nicht Friedrichshain

„Angenommen, alles geht verloren, verschanze ich mich in Friedrichshain“, lacht Czollek und geht weiter, schaut sich noch einmal um zur Skulptur. „Wenn der ganze völkische Dreck so stark wird, dass er auch die Innenstädte übernimmt, wird Friedrichshain mein letzter Rückzugsort sein.“

Die AfD könne Spandau haben, Steglitz, aber nicht diesen Stadtteil. Vor einigen Jahren fand Czollek nur eine Wohnung in Kreuzberg, obwohl er gerne in Friedrichshain wohnen würde. Klar, Luxusprobleme. Kreuzberg sei natürlich diverser, aber Friedrichshain politischer.

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Auf der Modersohnbrücke bleibt er kurz stehen. Im vergangenen Sommer saß er hier oft mit zahlreichen anderen, die Sonne ging unter, die Bierflaschen auf. Am Fuß der Brücke, nach der Revaler Straße, der sehnsüchtige Blick zu einem Wagenburgplatz.

Und immer die Frage: Wie lange noch? Berlin verändert sich, viele alternative Orte werden verdrängt. „Dieser Ausverkauf ist schlimm. Gleichzeitig muss man lernen, dass sich Berlin nie so entwickelt, wie man das gerne hätte“, sagt Czollek. Von seinem Vater habe er das Kämpfen gelernt, von seiner Mutter, die heute bei der Böll-Stiftung arbeitet: Geduld. Czollek schweigt für einen Moment. Das macht er selten, aber wenn, dann bedeutsam.

Seine Turnschuhe, diese schwarzen mit den drei weißen Streifen, die in den Neunzigern viele Jugendliche trugen, nähern sich einer Stadtbibliothek auf der rechten Seite der Modersohnstraße. Dort hat Czollek Kassetten gehört, alle Folgen von Alf und den „Drei Fragezeichen“.

Rave als Protestform neben einschlagenden Wasserwerfern

Er schweigt weiter, diesmal bedeutungslos, und man merkt es ihm an: er ist froh, hier zu sein, nun angekommen am Boxhagener Platz. Hier ist das „Zielona Góra“, eines der noch bestehenden linksalternativen Zentren, früher Treffpunkt internationaler Hedonisten, mit denen Czollek zum Beispiel im Sommer 2007 gegen den G8-Gipfel in Rostock Heiligendamm demonstrierte: Rave als Protestform neben einschlagenden Wasserwerfern.

Durch eine Unterführung geht es in den Samariterkiez, die Rigaer Straße und die Silvio-Meier-Straße. Im U-Bahnhof Samariterstraße erinnert eine Tafel an Meier, einen Aktivisten der links-alternativen Szene und Hausbesetzer, der 1992 von Neonazis getötet wurde. Die Trauerfeier für Meier ist eine von Czolleks ersten politischen Erinnerungen, er war fünf Jahre alt.

Kollektives Schreiben in der Silvio-Meier-Straße

Später, Czollek war Studierender und die Silvio-Meier-Straße hieß noch Gabelsbergerstraße, hatte er hier seine erste Wohnung, in der Hausnummer 13. Zusammen mit anderen gründete er das Lyrikerkollektiv „G13“: Kollektives Schreiben und Vorlesen, jeden Sonntag trafen sie sich bei Czollek, es wurde über Politik und Lyrik diskutiert, Lesereisen geplant.

Von der Wohnung aus zeigt Czollek auf ein Haus in der anliegenden Rigaer Straße: „ACAB“ (Abkürzung für All Cops are Bastards) steht riesig in weißer Farbe auf dem Dach, schon etwas verschwommen. Im Erdgeschoss die Kneipe „Abstand“, neben dem Haus das „Theater im Keller (T.I.K.)“, in dem Czollek seine erste Lesung hatte.

Im „Theater im Kino“ in der Rigaer Straße hatte Czollek seine erste Lesung.
Im „Theater im Kino“ in der Rigaer Straße hatte Czollek seine erste Lesung.

© Doris Spiekermann-Klaas

Aus einem Späti schaut eine Frau aus dem Eingang, die Besitzerin. „Hier gibt es nichts zu sehen, hier ist alles ganz ruhig“, ruft sie. In der Rigaer Straße kommt es immer wieder zu Ausschreitungen zwischen Linksautonomen und Polizei. Die Straße ist Gefahrengebiet. Die Beamten dürfen hier ohne Anlass jeden kontrollieren. Auch bei ihr im Laden seien „die Bullen“ öfter, behaupteten, sie verstecke Leute, erzählt die Späti-Verkäuferin. „Dabei ist hier alles ganz ruhig, die Linken sind älter geworden.“ Die Polizei hingegen sei aggressiv und fahre ständig langsam durch die Straße und filme, sagt sie.

Czollek hört sich das an. Er kennt das. „In der Rigaer Straße fühle ich mich beschützt“, sagt er, „weil es hier eine klare antifaschistische Hegemonie gibt“. Gewalt gebe es hier nicht gegen Geflüchtete oder Juden, sondern maximal gegen weiße Fassaden und glänzende Autos.

Er sei es leid, dass diese zwei Formen der Gewalt permanent auf einer Ebene verhandelt werden: Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen. Es mache einen wesentlichen Unterschied, ob ein Farbbeutel geworfen werde, oder neun Menschen erschossen. Aus dem Späti kommt ein junger Punk und lässt sein Bier aufploppen.

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