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Berlin: Horst Helbig (Geb. 1937)

Er suchte die Nähe, und er mied sie

Mitten im Hof, auf einer runden Rasenfläche steht ein Apfelbaum. Sein Stamm ist dünn und kaum höher als einen Meter. Horst Helbig pflanzte den Baum und wusste, er selbst würde keine Früchte mehr ernten. Andere werden es können.

Die anderen, die Nachbarn aus der Ansbacher Straße 60, waren seine Familie, ein Ersatz für die fehlende eigene, für eine Frau, für seine vier Kinder, die hunderte Kilometer entfernt leben, zu denen er kaum Kontakt hatte.

Und was war er für sie, für die Nachbarn? Der inoffizielle Hausmeister, der Großvater, der Besserwisser, der Trinker, der Gesellige, der Einzelgänger. Er goss die Blumen und fühlte sich von den ins Bierglas gefallenen Blättern des Fliederbaums belästigt. Er säte den Rasen und mähte ihn, manchmal auch sonntags früh halb sieben nach einer Nacht im Rausch und meckerte während des Tages über den Fußball, der rhythmisch gegen die Wand geschossen wurde. Er schippte Schnee, wechselte die Glühbirnen und saß noch in der Morgendämmerung im Hof, trank und disputierte mit zwei anderen Redekünstlern, bis ein wütender Nachbar im Pyjama vor ihnen stand.

Er war klug, wusste so viel über Pflanzen und Technik und Politik, mochte gute, nüchterne Gespräche und ärgerte sich maßlos über das alkoholisierte nächtliche Palaver und das verplemperte Geld in irgendeiner Kneipe. Er bot im Sommer jedem ein kühles Getränk an und blieb Tage verkatert im Bett. Er verreiste nie und träumte von einer Fahrradtour an die Ostsee. Er verschenkte Eis an die Kinder, reparierte ihre Bobby-Cars, klebte Pflaster auf ihre aufgeschlagenen Knie und verteilte Erziehungsratschläge an die Eltern. „Und du? Und deine Kinder?“, fragten die zurück. Dann winkte er ab: „War eine andere Zeit damals.“

Sein Vater kämpfte im Krieg, mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder zog er hungrig immer weiter, von einem Schwarzwaldort zum nächsten, jede Kinderfreundschaft endete nach wenigen Wochen. Als der Vater 1948 aus russischer Gefangenschaft zurückkam, öffnete ihm Horst die Tür und sah in ein entstelltes Gesicht. Kurz darauf fand er ihn, erhängt.

Er lernte Elektromaschinenbau und ging zur Bundeswehr, wo es ihm gefiel, wo Ordnung herrschte und Genauigkeit, wo er seinen Lkw-Führerschein machen konnte, wo es Kameraden gab, die immer da waren, mit denen er auch trinken konnte. Er tanzte gern mit hübschen Mädchen und die hübschen Mädchen gern mit ihm, doch was wusste er damals schon von den Dingen, die folgen können, wenn der Tanz zu eng, der Taumel zu hitzig wird. Sein erster Sohn kam zur Welt, aber die Mutter heiratete er nur, damit das Kind den Vatersnamen trägt.

Horst arbeitete als Fernfahrer und tanzte wieder, diesmal mit Helga, zwei Mädchen und noch ein Junge wurden geboren. Horst und Helga eröffneten eine Wirtschaft mit Kino und angrenzender enger Wohnung, Helga stand hinterm Tresen, Horst saß davor, schwadronierte mit den Gästen über dies und das, stritt mit Helga und trank. Nach zwei Jahren endete die Ehe.

Und Horst machte sich auf den Weg nach Berlin, in die Ansbacher Straße 60. Der Kontakt zu seinen Kindern riss ab, dieser schmerzliche Schnitt aber hieß auch Freiheit, die Entlassung in ein neues Leben. In diesem fuhr er mit dem Lkw quer durch das Land, baute sich die kleinste Wohnung des Hauses in der hintersten Ecke des Hofes aus, richtete sich im Keller eine Werkstatt ein, flickte dort die platten Reifen seiner Nachbarn, reparierte Tische und Stühle, laborierte so lange an einem Problem, bis er die Lösung fand. Geht nicht, gibt’s nicht, beteuerte er beharrlich und schaffte es mit seinem Geschick bis in die Filmbranche. Er zimmerte Kulissen und schraubte und strich.

Es fiel ihm leicht, mit Menschen zu reden, sie kurzerhand zu duzen, ohne ihnen dabei auf den Wecker zu fallen, sie zusammenzuführen, eine Gemeinschaft im Haus herzustellen. Bevor er in die Ansbacher Straße kam, liefen die Nachbarn mit einem knappen „Hallo“ aneinander vorüber, mit ihm saßen sie im Hof, feierten Feste, halfen einander. Enge Freunde aber hatte Horst nicht. Er suchte die Nähe, und er mied sie. Er sprach jeden neuen Mieter an und war diese Figur aus Wilhelm Buschs Gedicht „Der Einsame“.

Wer einsam ist, der hat es gut,

weil keiner da, der ihm was tut.

„Das ist mein Leben“, sagte er, und es schien, als sei er einverstanden damit. Nie hörte man ein „hätte doch“ oder ein „wäre bloß“. Am Ende seines Lebens entstand eine fragile Verbindung zu seinen Kindern, vereinzelt wagten sie Gespräche, stellten Fragen.

Nüchtern und ohne Scheu schaute Horst auf den Krebs. „Dann ist es eben vorbei“, sagte er, „aber auf meiner Trauerfeier möchte ich dabei sein.“ Deshalb lud er alle Nachbarn noch einmal ein, am 17. September, zu seinem letzten Geburtstag. Lange Tafeln wurden aufgebaut und ein Grill, die Sonne schien und die Blätter des Fliederbaumes fielen in die Gläser. Tatjana Wulfert

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