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Der Stolperstein für Bianka Hamburger in der Englerallee 6 in Berlin-Dahlem.

© OTFW

Holocaust-Forschung: Wie Berliner Finanzbehörden jüdisches Eigentum raubten

Vor 75 Jahren begannen die Deportationen von Berliner Juden. Die Finanzverwaltung organisierte ihre Enteignung. Ein Gastbeitrag.

Stolpersteine lassen uns über das schreckliche Schicksal vieler Menschen im Nationalsozialismus stolpern. Diese Menschen lebten in Berlin, in unserem Kiez, in unserem Haus. Gerade gedachten wir des 75. Jahrestags des Beginns der Deportationen im Oktober 1941 von mehr als 55.000 Berliner Jüdinnen und Juden. „Abwanderung gen Osten“ oder „Umsiedlung“, so hieß es in der Behördensprache der Täter. Die Täter: Das waren die SS, die Gestapo, Göring, Himmler, Eichmann – das wissen wir.

Bei Recherchen über die Biografie eines Menschen, der dem Dritten Reich zum Opfer fiel, kann man aber auch fachlich stolpern: Die damals 65-Jährige Bianka Hamburger, an die ein Stolperstein in Berlin-Dahlem erinnert, nahm Ende August 1942 - einen Tag vor ihrer anstehenden Deportation - eine lebensgefährliche Dosis Schlaftabletten. Am nächsten Tag wurde sie halbtot ins Jüdische Krankenhaus in Wedding eingeliefert – zur Wiederbelebung, so lautete die Anweisung der Täter an die Ärzte. Der Verkauf des Schlafmittels Veronal an Juden stand unter Strafe, ebenso jeder Selbstmordversuch. Alle, die die „Flucht in den Tod“ vor der anstehenden Deportation versuchten, sollten noch in die Züge gen Osten steigen und daher zumindest transportfähig gemacht werden.

Dennoch wurden allein im Jahr 1942 auf dem jüdischen Friedhof Weißensee 823 Menschen mit dem Vermerk „Freitod“ bestattet. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Aber welchen Sinn hatte es, Menschen transportfähig für die Züge zu machen, die sie ohnehin in den Tod fahren sollten?

Kollektive Ausbürgerung und Enteignung

Ende November 1941 war die Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz in Kraft getreten. Mit ihr wurden die rund 250.000 jüdischen Deutschen, denen die Flucht noch rechtzeitig gelungen war, kollektiv ausgebürgert und enteignet: Gemäß § 1 der VO führte der Aufenthalt im Ausland nun unweigerlich zur Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit und das gesamte Vermögen der betroffenen Person fiel nach § 3 automatisch dem Deutschen Reich zu.

Mit Sondersteuern und -abgaben hatten sich die Finanzbehörden schon Jahre vorher mehr als die Hälfte des Vermögens der Geflohenen einverleibt: Ein Viertel wurde schon seit 1931 als Reichsfluchtsteuer fällig, Devisengesetze verhinderten die Mitnahme von Sachvermögen und Zahlungsmitteln über zehn Reichsmark und 1938/39 war ein weiteres Viertel als Judenvermögens-Abgabe zur „Sühne“ der Reichspogromnacht zu zahlen. Entsprechend stammten im letzten Haushaltsjahr vor Kriegsbeginn mindestens neun Prozent der Reichseinnahmen aus der fiskalischen Diskriminierung und Teilenteignung der jüdischen Bevölkerung. Mit ihnen konnte ein Staatsbankrott des Deutschen Reichs Ende 1938 abgewendet und die Kriegspläne finanziert werden.

Finanzamt Moabit-West war bereits routiniert

Mit der Elften Verordnung wurden im November 1941 auch all jene Menschen erfasst, deren Deportation in die Ghettos und Vernichtungslager im besetzten Osteuropa gerade erst begonnen hatte. Das Reichsfinanzministerium informierte die regionalen Oberfinanzpräsidenten bereits Anfang November 1941 über die anstehende „Abschiebung“ der Juden und wie mit deren Vermögen zu verfahren sei: die intern als „Aktion 3“ betitelte finale Enteignung aller deutschen Juden durch die Finanzämter begann.

In Berlin wurde dazu das mit der Einzelenteignung von Kommunisten, Juden und sonstigen Staatsfeinden bereits routinierte Finanzamt Moabit-West betraut: als regionale „Vermögensverwertungsstelle“. Nachdem die Gestapo durch die Deportation über die Reichsgrenze für die notwendigen Fakten gesorgt und die Transportlisten an den Oberfinanzpräsidenten geschickt hatte, oblag es im Anschluss der Vermögensverwertungsstelle, die hinterlassenen Besitztümer für den Fiskus nutzbar zu machen.

Im Deportationserlass war reichsweit umfassend geregelt, wie mit den einzelnen Werten zu verfahren sei: Wertpapiere waren der Reichshauptkasse zu übereigenen, Schmuck und Briefmarkensammlungen bei den städtischen Pfandleihhäusern abzuliefern und Kunstgegenstände bei den Reichskammern für bildende Künste zu melden. Immobilien waren zunächst selbst zu verwalten und das Mobiliar vornehmlich zugunsten der Finanzverwaltung einzuziehen. Die verbleibenden Wertgegenstände und der Hausrat sollten verkauft werden.

Um eine detaillierte Auflistung aller Besitztümer zu erhalten, wurden die Opfer vor der Deportation zum Ausfüllen einer 16 Seiten langen Vermögenserklärung gezwungen, die neben Immobilien, Wertpapieren, Schmuck und Rentenansprüchen auch ihren vollständigen Hausrat umfasste, inklusive aller noch so unbedeutenden Gegenstände wie Nachthemden oder Gabeln. Mit diesen Listen begaben sich die Beamten nach der Deportation in die Wohnungen der Opfer, um eine Schätzung der Werte vorzunehmen. Der Hausrat wurde später mit Ankündigung in den Berliner Zeitungen direkt in den Wohnungen versteigert: Zur Freude vieler Nachbarn und „Flieger-geschädigter“ Berliner, die in Krisenzeiten ein Schnäppchen machen konnten.

Rückhalt in der Bevölkerung

In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft, so das Ergebnis vorsichtiger Schätzung, wurde der jüdischen Bevölkerung in Deutschland alleine aufgrund der „Aktion 3“ Vermögen im Wert von 1,5 Mrd. Reichsmark (ca. 15 Mrd. Euro) geraubt. Dabei besserten die Finanzämter nicht nur die Reichskasse auf. Mit der Auflösung der Haushalte war die „Aktion 3“ der Abschluss der Vernichtung und sollte die Juden endgültig aus dem Bewusstsein der Bevölkerung tilgen. Zudem half sie Hitler bei der Aufrechterhaltung seiner Macht: Durch den Verkauf von jüdischem Besitz zu Schleuderpreisen sicherte er sich trotz zunehmender Bombardements und Versorgungslücken den Rückhalt in der Bevölkerung.

Allein für die Region Berlin-Brandenburg sind mehr als 40.000 Finanzamt-Akten erhalten, die den legalisierten Raub jüdischen Vermögens bis hin zu dessen letzten Resten akribisch festhalten; diese wurden aber erst in 1990er Jahren der Forschung zugänglich gemacht.

Fiskalischer Raub durch "Flucht in den Tod" nur verzögert

Frau Hamburgers Akte enthält keine Vermögenserklärung. Das Ausfüllen verweigerte sie ebenso wie die angekündigte Deportation. Sie starb im Jüdischen Krankenhaus am nächsten Morgen. Ihre „Flucht in den Tod“ verzögerte aber den fiskalischen Raub um ganze zwei Jahre, denn die Finanzämter vollzogen den „Finanztod“ der jüdischen Bevölkerung stets nur auf schein-legaler Grundlage. Sie waren seit Machtergreifung in sämtliche Verfolgungsmaßnahmen des NS-Staates involviert und hatten in enger Zusammenarbeit mit der Gestapo die jüdische Bevölkerung überwacht, drangsaliert und vertrieben. Mit der „Aktion 3“ fanden die Verbrechen im Namen des deutschen Fiskus nun ihren traurigen Höhepunkt. Auch das sollten wir über unsere Geschichte wissen.

Regine Buchheim ist Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin und forscht unter anderem zu Steuern und Wirtschaftsprüfung im Nationalsozialismus.

In der Dauerausstellung „Wir waren Nachbarn“ werden Schicksale Berliner Juden im Rathaus Schöneberg nachgezeichnet .

Michael Verhoevens preisgekrönter Dokumentarfilm „Menschliches Versagen“ von 2008 ist auf YouTube abrufbar und zeichnet die Profiteure in der deutschen Bevölkerung sowie die Beteiligung des Fiskus am Holocaust nach.

Regine Buchheim

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