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Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor am 10. November 1989.

© Wolfgang Kumm/dpa

Hört auf mit den Opfer-Erzählungen!: Wir müssen die emotionalen Mauern einreißen

DDR-Nostalgie und die angebliche ostdeutsche Opferrolle beherrschen die Debatte. Stattdessen sollten wir mehr differenzieren. Ein Gastbeitrag.

Ute Frevert ist Historikerin und forscht zur Neueren und Neuesten Geschichte sowie zu Sozial- und Geschlechterthemen. Sie ist Geschäftsführende Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

Am Abend des 22. Dezember 1989 tanzte ich durchs Brandenburger Tor, vor den Augen meines peinlich berührten fünfjährigen Sohnes, dem diese Exaltation deutlich zu weit ging. Ein paar Wochen später stand er selber auf der Mauer vor dem Tor, und davon gibt es ein Foto. Sein Gesicht strahlt, vermutlich war ihm inzwischen bewusst, dass sein Standort kein gewöhnlicher war. Was die Geschehnisse im Herbst 1989 aber für die Zukunft bedeuten würden, konnten weder er noch ich damals absehen.

Selbst Bundespräsident Richard von Weizsäcker gab sich in seiner Weihnachtsansprache zurückhaltend: „Wir in der Bundesrepublik“ wollten dazu beitragen, „das Vertrauen in die politische und in die wirtschaftliche Reform der DDR zu bestärken“. Kanzler Kohl stellte eine enge Zusammenarbeit und den Aufbau konföderativer Strukturen in Aussicht. Wie sich die „Einheit unseres Vaterlandes“ bewerkstelligen lassen würde, war unklar.

Für mich war diese Einheit nicht in Stein gemeißelt. Ich kannte die DDR gut, hatte Familie und Freunde im Land hinter der Mauer. Alle hatten sich eingerichtet. Niemand rechnete damit, dass die Mauer zu ihren Lebzeiten fallen würde. Sicher, es gab Ausreiseanträge en masse, und im Sommer 1989 nutzten viele Menschen die Chance, sich über Ungarn in den Westen abzusetzen. Die große Mehrheit aber bewegte sich nicht. Nur eine winzige Minderheit machte sich Gedanken, wie sie die DDR von innen so verändern könnte, dass alle gern dort bleiben würden.

Aus meiner Sicht schien das der richtige Weg. Man mag es träumerisch nennen – aber als Linke wünschte ich mir einen erfolgreichen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie er 1968 im Prager Frühling aufschien und rasch wieder plattgewalzt worden war. An der real existierenden DDR mochte ich nicht nur das Ampelmännchen, sondern auch die Polikliniken und die Berufsausbildung mit Abitur. Mir gefiel, dass es die Pille umsonst gab und der Paragraf 175 aus dem Strafgesetzbuch verschwunden war. Wenn es gelänge, die SED-Herrschaft abzuwählen und einen wirklich demokratischen Sozialismus aufzubauen, könnte das der Bundesrepublik eine attraktive Konkurrenz an die Seite stellen. So sah mein Traum aus, den ich mit der oppositionellen Bürgerbewegung im Osten teilte.

Aus kritischen DDR-Bürgern wurden hyperaktive Marktteilnehmer

Am 18. März 1990 war klar, dass dieser Traum ausgeträumt war. Die DDR-Bevölkerung stimmte mit überwältigender Mehrheit gegen ein erneutes Experiment, sie wollte die staatliche Einheit sofort. Ich war überrascht, auch darüber, dass die SPD sogar in ihren früheren sächsischen Hochburgen – dort war sie schließlich entstanden – so schlecht abschnitt. Und mir schwante, dass die vierzig Jahre DDR viel mehr verändert hatten, als man mit Augen sehen konnte. In den trostlos zerfallenden grauen Städten mit ihrer Funzelbeleuchtung und dem Braunkohlegeruch hatten sich offenbar Mentalitäten und Gefühle entwickelt, die es zu begreifen und zu entziffern galt.

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An dieser Entzifferung arbeite ich nach wie vor. In den 1990er Jahren versuchte ich als Hochschullehrerin in Konstanz, den Studierenden am Bodensee die Geschichte der DDR näher zu bringen. Das Land war ihnen so fern wie Afrika. Als eine Studentin ihren ostdeutschen Freund mit ins Seminar brachte, wurde er von allen Seiten bestaunt und befragt. Immerhin waren die Konstanzer neugierig, wollten etwas wissen über seine Erfahrungen und Sichtweisen. Diese Neugier konnte man längst nicht überall voraussetzen.

Und sie traf auch nicht immer auf Gegenliebe. Nicht jede, die in Dessau aufgewachsen war und jetzt in Bochum studierte, wollte als DDRlerin geoutet werden. Gerade unter den Jüngeren meinte ich einen Überdruss zu entdecken, wenn es um Ost-West-Themen und Zuschreibungen ging. Sie schienen solche Identifizierungen weder zu brauchen noch zu wünschen.

Ute Frevert ist Historikerin und Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsgeschichte.
Ute Frevert ist Historikerin und Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsgeschichte.

© Mike Wolff

Aber vielleicht war das eine Wunschprojektion meinerseits. Vielleicht wünschte ich mir nur, dass die Ost-West-Trennung von der jungen Generation überwunden würde, dass sie sich unbefangen und unbeschwert auf die gemeinsame Zukunft einlassen könnte. Ich wünschte es mir umso mehr, weil ich die emotionalen Mauern in den Himmel wachsen sah. Meine ehemaligen DDR-Freunde wandten sich von mir ab, wir verstanden uns nicht mehr. Sie bezogen andere politische Positionen, holten nach, was sie vorher vermisst und verpasst hatten. Bei ihrer „Anpassung“ legten sie eine Geschwindigkeit und Direktheit vor, die mich schwindeln ließen. Aus kritischen DDR-Bürgern wurden in null Komma nichts hyperaktive Marktteilnehmer, die sich mühten, das Ulbricht-Motto „Überholen ohne einzuholen“ endlich in die Tat umzusetzen.

Es wurde eine ostdeutsche Opferrolle konstruiert

Andere, denen die Anpassung nicht so gut gelang, versanken in Enttäuschung und Bitterkeit. Manche überdeckten das mit Zynismus, keine liebenswerte Eigenschaft. Dabei fehlte es keineswegs an Verständnis. Selbst westliche Treuhand-Manager gestanden unumwunden ein, dass sie die Abwicklung der DDR-Wirtschaft vor große menschliche Probleme stellte. Sicher gab es dreiste Ostlandritter und betrügerische Übernahmen. Aber viele waren ernsthaft daran interessiert, im Osten Deutschlands Lebensverhältnisse zu schaffen, die denen des Westens nicht nachstanden.

Trotzdem blieb die Kommunikation gestört. Weihnachten 2000 forderte Bundespräsident Johannes Rau, wie schon seine Vorgänger, die Deutschen in Ost und West auf, ihre Vor- und Fehlurteile übereinander zu korrigieren und einander mehr zu erzählen. Aber wer seine Professur an einen Westkollegen verloren hatte, der wollte nicht erzählen, und der neuberufene Westkollege wollte meist auch nicht zuhören. Scham, Ressentiment, Kränkung, Misstrauen, verschieden verteilt, erschwerten und verhinderten das grenzüberschreitende Gespräch.

Sie tun das bis heute. Dass sich der Ost-West-Gegensatz dreißig Jahre nach der Friedlichen Revolution fast stärker ausprägt als in den 1990er Jahren, stimmt nachdenklich. Bücher über eine angebliche ostdeutsche Identität verkaufen sich blendend. Diese Identität sei, heißt es, aus der Erfahrung konstanter Demütigung entstanden. Von ganz rechts, aber auch aus linken Kreisen wird das Demütigungs-Narrativ eifrig bedient. Es verteilt Opfer- und Täterrollen entlang des Grünen Bandes. Es lädt Ostdeutsche dazu ein, sich als Opfer zu definieren und „den Westen“ kollektiv anzuklagen.

Es entlastet sie zugleich davon, sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Stattdessen macht sich DDR-Nostalgie breit. Es sei so viel solidarischer zugegangen im Osten, es habe tiefere Freundschaften gegeben, niemand hätte um seinen Arbeitsplatz bangen müssen. Die Kosten der erinnerten Idylle werden ebenso ausgeklammert wie die Gegner und Opfer des Regimes.

Es fehlen die ambivalenteren Geschichten

Die angebliche ostdeutsche Demütigungserfahrung bietet sich hier als kommode Deckerzählung an. Anstatt die ostdeutschen Binnendifferenzen aufzuarbeiten, konstruiert man eine flächendeckende Identität, die die Brüche kittet und den Gegensatz von Stasi-Mitarbeitern und Stasi-Opfern einebnet. Dass viele SED-Kader ihr Herrschaftswissen nach 1989 nutzten, um sich am Volksvermögen zu bereichern, bleibt ebenfalls ausgespart. Selbst unter den Nachgeborenen gibt es viele, die solchen Geschichtsklitterungen auf den Leim gehen.

Oder täuscht der Eindruck? Melden sich bloß diejenigen zu Wort, die den Ost-West-Gegensatz schüren, um daraus politisches Kapital zu schlagen? Hören wir ihnen nur deshalb so aufmerksam zu, weil sie so laut sind – und weil andere schweigen, die ihre ambivalenteren Geschichten für sich behalten? Von diesen Geschichten würde ich gern mehr hören. Ein Traum?

Ute Frevert

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