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Historische Fotos: S-Bahnfahrt in die Vergangenheit

Verwaiste Stationen, Verachtung für den Konzern. Das gab es schon früher einmal – in West-Berlin. Renate von Mangoldt hat die Zeit festgehalten. Ihre Fotos, die sie in den 70ern und 80ern entlang der Gleise machte, sind nun zu sehen.

Am S-Bahnhof Wittenau halten Anwohner Schafe und Gänse in engen Käfigen, die verriegelten Türen am S-Bahnhof Wedding sehen aus wie geschlossene Augen, und das Schild „Letzter Bahnhof im Westsektor“ am S-Bahnhof Humboldthain ist zur Hälfte mit einem Plakat überklebt. Über 30 Jahre ist es her, dass Renate von Mangoldt Schwarz-Weiß-Fotos von verwaisten West-Berliner S-Bahnhöfen gemacht hat. Doch einige der Bilder rufen unweigerlich Assoziationen zur gegenwärtigen S-Bahn-Krise hervor. Sie führte neben Zugausfällen und Verspätungen dazu, dass jüngst vier S-Bahn-Strecken kurzzeitig eingestellt und Bahnhöfe einfach zugesperrt wurden.

Einen Teil dieser Aufnahmen von 1974 und 1981 zeigt die Kulturstiftung Poll in der Gipsstraße noch zehn Tage unter dem Titel „Nachtrag zur S-Bahn“ aus Anlass des siebzigsten Geburtstags der Fotografin. Auch am heutigen Sonnabendnachmittag ist die Ausstellung geöffnet; zudem ist nun ihr S-Bahn-Fotobuch erschienen mit 77 Bildern.

Gern und oft S-Bahn gefahren ist Renate von Mangoldt noch nie. Auch als sie in den Sechzigern als Hausfotografin des neu gegründeten Literarischen Colloquium Berlin (LCB) beginnt, Autoren wie Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson und Paul Celan zu fotografieren, fährt sie dazu meist mit dem Auto raus an den Wannsee zum LCB. In den folgenden Jahren kommt sie auf diesen Autofahrten durch West-Berlin immer öfter an zunehmend verwahrlosten S-Bahnhöfen vorbei. Denn infolge des S-Bahn-Boykotts von 1961 und der stetig schwindenden Bereitschaft der West-Berliner, die zur DDR-Reichsbahn gehörende S-Bahn zu benutzen, gerät diese in eine große Krise: Bahnhöfe werden zugesperrt, Linien gekappt, Fensterscheiben eingeworfen und die Gleise langsam von Unkraut überwuchert. Die BVG richtet einen Konkurrenzverkehr mit Bussen ein und baut im Westen neue U-Bahnlinien, nach und nach werden Hinweise auf die S-Bahn aus Streckenplänen, von Schildern und sogar aus Reiseführern entfernt. „Nur noch die ganz Armen und die Trotzigen sind damals S-Bahn gefahren“, sagt von Mangoldt. So habe sie mit ihren Fotos eine „Idee des Verschwindens“ erzählen wollen. Den Titel wählte die Fotografin in Anlehnung an ihre Autorenporträts auf Stühlen, mit denen sie berühmt wurde und die sie nach einem Satz Jean Pauls „Komische Idee des Sitzens“ nannte.

Nahezu menschenleer sind zahlreiche S-Bahnhöfe, auf manchen sind alte Menschen im Gespräch zu sehen. In Friedenau sitzt ein alter Mann auf einer Bank unter einem Baum, durch den das Sonnenlicht fällt. Die Szenerie hat etwas Dörfliches. Ein anderes Foto hat von Mangoldt aus der fahrenden S-Bahn gemacht, hinter einem hohen Zaun zeigt es das Reichstagsgebäude und zwei alarmiert blickende Grenzsoldaten. Viele der nicht inszenierten Momentaufnahmen strahlen eine der Zeit entrückte Tristesse und – unterstützt durch das klare, kontrastreiche Licht der Schwarz-Weiß-Aufnahmen – zugleich eine morbide Schönheit aus. „Da ich meine Arbeit dokumentarisch verstehe und vor allem das Vorgefundene zeige, verleihe ich ihr mit der Schwarz-Weiß-Fotografie eine kleine künstlerische Zugabe”, sagt von Mangoldt.

Eine Besucherin der Ausstellung in der Gipsstraße in Mitte jedenfalls ist begeistert vom Zeitzeugencharakter der Bilder, deren Grautöne das „Schwarz-Weiß-Lebensgefühl“ mitten im Kalten Krieg gut wiedergäben. „Es kommt einem wie gestern vor“, sagt sie und erinnert sich an die vielen gespenstisch einsamen S-Bahnhöfe noch sehr gut.

Die Ausstellung ist noch bis zum 25. Januar zu besichtigen, Dienstag bis Sonnabend, 15 bis 18 Uhr. Kunststiftung Poll, Gipsstraße 3, zweiter Stock im Hinterhaus. Der Eintritt ist frei. Mehr Informationen auf der Internetseite www.poll-berlin.de und unter der Telefonnummer 284 962 50. Das Fotobuch „Nachtrag zur S-Bahn“ mit 77 Bildern und einem Text von Uwe Johnson ist jetzt im Steidl-Verlag erschienen und kostet 28 Euro.

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