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Am Schlüsselbrett sehen die Prostituierten, welches Zimmer gerade frei ist.

© Doris Spiekermann-Klaas

Hinter den Kulissen des Berliner Großbordells: Die Akte Artemis

Zuhälterei? Menschenhandel? Eine Razzia und ein gescheitertes Verfahren ermöglichen tiefe Einblicke in eine Branche unter Verdacht.

Er sagt, sie hätten geahnt, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie fragten sich: „Warum gibt es seit Monaten keine Kontrollen mehr?“ Wo bleiben die Beamten vom Landeskriminalamt, vom Zoll und vom Finanzamt, die doch regelmäßig vorbeikamen, jetzt aber schon ein ganzes Jahr nicht mehr? Er rief beim LKA an und fragte, ob es ein Problem gebe. Nein, nein, habe der Mann geantwortet, alles in bester Ordnung. Es gebe bloß interne Umstrukturierungen, da habe man gerade keine Zeit für Besuche.

Als sie dann das nächste Mal kamen, waren es gleich mehrere hundert. Am 13. April 2016 stürmten Polizisten abends über den Parkplatz Richtung Eingang, einer hatte einen Rammbock dabei, um die Tür aufzubrechen. War aber nicht nötig, denn sie stand offen. Ein Freier, der gerade selbst erst eingetroffen war, stellte sich freundlicherweise neben den Eingang und hielt die Glastür auf, sodass die Einsätzkräfte im Gänsemarsch durch konnten.

530 Ermittler durchsuchten an diesem Mittwoch das Artemis, weitere 400 diverse Wohnungen in der Stadt, es sollte ein spektakulärer Schlag gegen das organisierte Verbrechen werden. Ein Schlag gegen einen brutalen Betrieb, der Frauen systematisch ausbeutet und zur Prostitution zwingt. Und in dem Frauen, so formulierte es ein Staatsanwalt, wie „Sklaven auf Baumwollfeldern“ behandelt würden.

In Berlin gilt das Artemis als Ausnahme

Zweieinhalb Jahre später steht Hakki Simsek auf der breiten Wendeltreppe, die runter zur Dampfsauna und zum Schwimmbad führt, und sagt: „Wir rätseln bis heute, warum sie uns das alles angetan haben.“ Simsek, 56, angegrautes Haar, gemütliche Strickjacke, die Lesebrille in den Kragen gesteckt, sieht eher nach Gesamtschullehrer aus als nach Bordellbetreiber. Er sagt: „Die vergangenen Jahre haben mein Vertrauen in den Rechtsstaat schwer beschädigt.“ Er spricht mit breitem fränkischen Akzent, Simsek ist in Bamberg aufgewachsen.

Die Razzia und die spätere Anklage haben den Blick der Öffentlichkeit auf eine Branche gelenkt, die seit jeher umkämpft ist und unter Verdacht steht. In Berlin gilt das Großbordell Artemis als Ausnahme – mit 100.000 Gästen pro Jahr und zweistelligen Millionenumsätzen. Der Großteil der Prostitution in Berlin findet aber in den geschätzt 600 sogenannten Wohnungsbordellen oder auf den Straßenstrichen an der Oranienburger Straße sowie der Kurfürstenstraße statt, beide werden von rivalisierenden Zuhältergruppen dominiert. Stadtweit sollen mehr als 8000 Prostituierte arbeiten, erst ein Viertel davon hat sich gemäß dem Prostituiertenschutzgesetz als Sexarbeiterinnen registrieren lassen. Immer wieder gehen Ermittler Fällen von Zwangsprostitution nach: Rocker und Clans lassen Frauen für sich anschaffen, ihre Namen werden den Frauen auf die Haut tätowiert, davor die Wörter „Property of“, zu Deutsch: „Eigentum von“. Trotzdem gelingt es der Justiz selten, Banden zu verurteilen, die Opfer schweigen aus Angst, oft werden sie mit Filmaufnahmen erpresst. Umso sensationeller wäre der Schlag gegen das Artemis gewesen. Wäre er denn erfolgreich gewesen.

Im April 2016 durchsuchten 530 Polizisten, Steuerfahnder und Zollbeamte den Betrieb an der Stadtautobahn. Fast 200 Zeugen wurden noch in der Nacht vernommen.
Im April 2016 durchsuchten 530 Polizisten, Steuerfahnder und Zollbeamte den Betrieb an der Stadtautobahn. Fast 200 Zeugen wurden noch in der Nacht vernommen.

© Jakob Hoff/Imago

Die blauen Wände neben der Wendeltreppe sind mit opulenten Jugendstilverzierungen bemalt. Ältere Männer laufen in Bademänteln und Gummischlappen herum, die Frauen sind nackt und heißen Alison, Lilly, Cindy oder Cora, jedenfalls während der Arbeit. Simsek schwenkt mit dem Zeigefinger umher: „Da ist überall Nichtraucherbereich.“ Beim Rundgang merkt man ihm an, dass er stolz ist auf seinen Laden, der seine Idee war und der einst, also vor der Razzia, nicht nur als Berlins größtes Bordell, sondern auch als Positivbeispiel galt, falls es so etwas in dieser Branche gibt. In vielen Ecken stehen Statuen nackter griechischer Göttinnen herum, vielleicht sind es auch bloß Statuen gewöhnlicher Nackter, man weiß es nicht. Simsek deutet auf den kleinen Kasten an der Wand neben dem Pool. Das Display zeigt abwechselnd Wassertemperatur, PH-Wert und Chlorgehalt an. Am Eingang der Sauna ein Schild: „Kein Schweiß auf Holz“.

Sex soll nur oben auf den Zimmern stattfinden, die heißen offiziell Verrichtungszimmer. Hakki Simsek erklärt, jedes sei ein bisschen anders eingerichtet. Sie tragen Namen wie „Akropolis“, „Maharadja“, „Fata Morgana“, „Palast“. Hier ist der Spiegel größer, da die Beleuchtung dunkler, dort sind die Plüschkissen zebragestreift. In jedem liegt zur Begrüßung eine Rolle Zewa auf dem Bett.

70 Polizisten holten ihn ab, beim Abendessen

Am Tag nach der Razzia lud die Staatsanwaltschaft zur Pressekonferenz, um ihren vermeintlichen Erfolg zu verkünden. Die Rede war von „Menschenhandel“ und „Zuhälterei“, im Artemis seien Frauen in „Abhängigkeit gehalten und ausgebeutet“ worden. Ein Ankläger sagte, der Erfolg der Ermittler erinnere an das Vorgehen gegen Al Capone. Hakki Simsek und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Kenan, der ebenfalls Betreiber ist, saßen zu diesem Zeitpunkt schon in Haft. Am Abend der Razzia hatten 70 Polizisten Hakki Simsek in seiner Wohnung abgeholt, er war gerade beim Abendessen, Schnitzel mit Kartoffelbrei. Ein Ermittler fragte: Warum hat Ihr Kind denn so viele Spielzeuge? Simsek antwortete: „Soll ich mich jetzt wirklich für das Spielzeug meines zweieinhalbjährigen Sohnes rechtfertigen?“

Er sagt, die U-Haft habe ihn fertig gemacht. „Nur einmal die Woche duschen, das ist doch Irrsinn.“ Sein Bruder und er kamen erst nach vier Monaten frei, als das Kammergericht die Arbeit der Ermittler rügte und einen dringenden Tatverdacht verneinte. Die Staatsanwaltschaft arbeitete weiter an ihrer Anklage. Hakki Simsek sagt: „Da war unser Ruf bereits ruiniert. Freunde und Geschäftspartner hatten sich abgewendet, Banken hatten uns die Konten gekündigt, die Zahl der Kunden war eingebrochen.“

An der Wand des Büros der Geschäftsführung hängen eingerahmte Zeitungsartikel über das Artemis.
An der Wand des Büros der Geschäftsführung hängen eingerahmte Zeitungsartikel über das Artemis.

© Doris Spiekermann-Klaas

Ihr Büro liegt im ersten Stock. Durch die eine Fensterfront sehen sie raus auf den Parkplatz, direkt dahinter die Stadtautobahn, durch die andere nach Nordwesten rüber zum ICC. Die Messen sind eine entscheidende Einnahmequelle, sagt Simsek, nur mit Berlinern würde sich der Betrieb nicht rentieren. Am meisten sei jeden Februar los, da ist immer „Fruit Logistica“, die internationale Obst- und Gemüsemesse. Wohlhabende Großhändler kommen dann ins Artemis. An der Bürowand neben dem Fotokopierer haben die Simseks Zeitungsartikel eingerahmt, die im Laufe der Jahre über sie erschienen sind. Sie tragen Überschriften wie „Die ersten Damen ziehen ins neue Sex-Sterne-Hotel“ oder „Sex ist auch nur eine Arbeit“.

Das Geschäftsmodell der Simseks ist in Berlin einzigartig und funktioniert folgendermaßen: Sowohl die Freier als auch die Prostituierten zahlen 80 Euro Eintritt, können dafür alle Räume nutzen und sich am Büfett bedienen, Frühstück von 11 bis 15 Uhr, Warmes ab 18 Uhr. Die Freier bezahlen die Prostituierten für den Sex direkt, die Betreiber kriegen davon nichts ab. Die Staatsanwaltschaft sagt, das Geld floss trotzdem reichlich: Allein Hakki Simsek habe innerhalb von zehn Jahren fast zwei Millionen Euro Geschäftsführergehalt ausgezahlt bekommen, dazu 5,8 Millionen Euro Gewinn als Gesellschafter aus der Artemis GmbH.

Gute Arbeitsbedingungen - und bloß keinen Behördenärger

„Wir haben von Anfang an mit allen Behörden kooperiert“, sagt Hakki Simsek. Die Beamten konnten sich im Haus frei bewegen, jede Prostituierte befragen – und zwar alleine, die Betreiber waren nie anwesend. „Nach jeder Kontrolle haben wir von uns aus die Prüfer gefragt, ob wir irgendwas verändern sollten.“ Ob etwas rechtlich nicht in Ordnung sei. „Nein“, hätten die jeweils geantwortet, „behalten Sie Ihre Standards genau so bei.“

Man muss sich die Simseks nicht als Philanthropen vorstellen. „Wir sind Unternehmer.“ Sie wollen, dass ihr Geschäft reibungslos läuft. Gute Arbeitsbedingungen für die Prostituierten, damit die besten in ihrem Haus arbeiten wollen, und bloß keinen Behördenärger. Ihre Strategie erklärt Simsek so: „Um auf der sicheren Seite zu sein, haben wir immer versucht, die gesetzlichen Anforderungen im Zweifel überzuerfüllen.“

Ihr Vater stammt aus einem Dorf in der Türkei, kam in den 60er Jahren als Gastarbeiter nach Bayern, war bei einer Textilfirma angestellt. Kenan begann eine Ausbildung zum Kaufmann, Hakki in Hotel- und Gastronomie. Später eröffneten sie mehrere Spielhallen in Süddeutschland, das brachte viel Geld ein. Dass sie zur Prostitution kamen, verdanken sie Rot-Grün. Um die soziale Situation von Prostituierten zu verbessern, beschloss die Schröder-Regierung 2001 das sogenannte „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten“ – kurz „ProstG“. Seitdem ist Prostitution nicht mehr sittenwidrig. Außerdem war ab sofort die „Schaffung eines angemessenen Arbeitsumfeldes“ nicht mehr strafbar, sofern keine Ausbeutung von Prostituierten stattfindet.

Die Alternative: ein Hotel aufmachen

Als Hakki Simsek davon erfuhr, dachte er: Da will ich mitmischen, aber richtig groß. Sein Bruder und er reisten wochenlang durch Deutschland und besuchten unterschiedliche Bordelle. „Wir haben uns überall bedient und die besten Ideen gemerkt“, sagt Hakki Simsek. Kenan hat mehrfach Prostituierte gebucht, bezahlt, aber dann nur interviewt. Um zu verstehen, auf was es ankommt. Am Ende so eines Gesprächs hat die Prostituierte gefragt: „Also wenn du jetzt wirklich kein Zivilbulle bist: Warum willst du das alles wissen?“ Meist reisten sie in Begleitung eines Architekten und eines Künstlers, der für die Innengestaltung verantwortlich sein würde. Beim Bau achtete er darauf, dass sich das Haus auch anders nutzen ließe. „Wäre das Bordell nicht gelaufen, hätte ich stattdessen ein Hotel aufgemacht.“

Sie haben dann bundesweit Annoncen in der „Bild“ und immer wieder in der Frauenzeitschrift „Heim und Welt“ aufgegeben: Prostituierte für neues Etablissement in Berlin gesucht. Das habe sich als effektiv erwiesen. Zwei Tage vor Eröffnung hätten sie alle interessierten Prostituierten zu einer Versammlung geladen und diese dann abstimmen lassen, welche Konditionen sie wollten. Damals einigten sich die Frauen untereinander auf einen Einheitspreis: 30 Minuten inklusive Oral- und Geschlechtsverkehr kosten 60 Euro. Extras variieren. Auf dem Straßenstrich am Kurfürstenkiez verdienen die Frauen etwa die Hälfte.

In der Lounge warten Prostituierte auf Kundschaft.
In der Lounge warten Prostituierte auf Kundschaft.

© Doris Spiekermann-Klaas

Die Versammlungen finden seitdem in unregelmäßigen Abständen statt, immer in Anwesenheit eines Anwalts, der Protokoll führt. In seinem Büro kramt Simsek die Aufzeichnung der ersten Sitzung nach seiner Entlassung aus der U-Haft hervor. Die Frauen votierten einstimmig dafür, alle bisherigen Regeln beizubehalten, auch das Preissystem. Im Protokoll ist zudem nachzulesen, dass die Mehrheit das Hausverbot für die Kollegin mit dem Künstlernamen Arminia aufrechterhalten möchte. Arminia hatte Preisdumping betrieben.

Den Gang entlang links neben dem Eingang liegt die Umkleide. Ein riesiger Raum mit mehreren Reihen verspiegelter Schminktische davor, es sieht aus wie die Maske im Theater. Auf den Ablagen stapeln sich strassverzierte High Heels und Parfumflakons. Die Frauen hier sind Deutsche oder aus dem ehemaligen Ostblock, es gibt auch Spanierinnen und Kubanerinnen. Alle sprechen Deutsch, das ist Bedingung, um im Artemis zu arbeiten. Die Frauen geben offen Auskunft über die Hausregeln und das Preissystem. Nova, 33, lange blonde Haare, sagt: „Für uns Frauen war die ganze Zeit klar, dass die Vorwürfe realitätsfern sind. Wer diesen Laden halbwegs kennt, und das taten ja nun viele staatliche Stellen, musste das ebenfalls wissen.“ Nova arbeitet mit Unterbrechungen seit neun Jahren hier. Damals bei der Razzia hatte sie gerade eine längere Pause eingelegt. Sie sagt, die Frauen würden sich wohlfühlen, vor allem auch sicher. „In jedem Verrichtungszimmer gibt es einen Notruf-Knopf. Wenn wir den drücken, ist sofort Security da.“ Der Unterschied zu Wohnungsbordellen oder gar zur Straße sei so groß, dass es oft eine Warteliste mit Interessentinnen gebe. Die Betreiber achten auf das Verhältnis zwischen Freiern und Prostituierten. Denn die Frauen haben ein unternehmerisches Risiko: Holen sie den gezahlten Eintrittspreis plus die pauschale Steuerabgabe in Höhe von 30 Euro pro Arbeitstag nicht wieder rein, machen sie Verlust.

Bitte nicht vom Beckenrand springen!

Die Geschäftsanbahnung findet meist im Erdgeschoss statt. Wenn die Männer geduscht und ihre Wertsachen im Spint weggeschlossen haben, betreten sie eine große Lounge mit Bar in der Mitte. Die Couches haben helle Lederbezüge, an den Wänden Gemälde, der Raum ist leicht abgedunkelt. Simsek sagt: „Auch alles Nichtraucherbereich.“ Er führt durch den Essensraum mit dem Frühstücksbüfett rüber zur Außenanlage. Ein weiterer Pool mit Hinweisschild: Bitte nicht vom Beckenrand springen! Nebenan eine kleine Gasse, die an einer Reihe von Hütten mit orientalisch anmutenden Fassaden vorbeiführt, das sind weitere Verrichtungszimmer. Dieses Minidorf hat Hakki Simsek „Marrakesch“ getauft. Er war nie dort, aber so stellt er es sich vor.

In den ersten Monaten haben die Simseks keinen Alkohol ausgeschenkt. Sie hofften, so könnten sie sich Stress mit pöbelnden Kunden ersparen, einen reibungslosen Ablauf ihrer Geschäfte garantieren. „Dieser Ansatz hat überhaupt nicht funktioniert“, sagt Hakki Simsek. Die Freier hätten ihre Schnapsfläschchen im Bademantel ins Gebäude geschmuggelt und heimlich zugelangt: „Die brauchten das, um sich Mut anzutrinken.“

Von jeder Frau, die im Artemis arbeiten wollte, wurde der Pass eingescannt und ans LKA geschickt. Außerdem unterzeichnete jede Prostituierte eine 13-teilige Erklärung. Darin wird ihr etwa mitgeteilt, dass ungeschützter Geschlechtsverkehr zu lebenslangem Hausverbot führt. Auch Drogenkonsum ist verboten. Diese Liste hat Simsek dem LKA ebenfalls vorgelegt mit der Bitte um Änderungsvorschläge. Der Beamte fand die Liste gut.

Zunächst lief das Geschäft mies. Oft kamen über den ganzen Tag verteilt nur 30 Freier. Simsek rechnete, wie lange er durchhalten könnte, ihm kam wieder sein Notfallplan Hotelbetrieb in den Sinn. Doch dann begann 2006 die Fußball-WM in Deutschland und brachte haufenweise neue Gäste. Die beiden Sexkinos im Haus wurden zur Public-Viewing-Zone umfunktioniert. Ab da wurde es voll.

Im Artemis arbeiten Deutsche und Osteuropäerinnen, aber auch Frauen aus Spanien und Kuba.
Im Artemis arbeiten Deutsche und Osteuropäerinnen, aber auch Frauen aus Spanien und Kuba.

© Doris Spiekermann-Klaas

Hakki Simsek sagt, sie haben immer versucht, sich klar vom Rotlicht-Milieu abzugrenzen. „Natürlich gab es Versuche, sich an uns zu bereichern, ja sich uns einzuverleiben.“ Verschiedene Berliner Clans und auch Rockergruppen hätten versucht, einen Fuß ins Artemis zu bekommen. Es gab Schlägereien auf dem Parkplatz, Drohungen. Simsek sagt, die Polizei hätte sie damals nicht ausreichend geschützt, sie hätten trotzdem an ihrer Linie festgehalten und sich geweigert, Schutzgeld zu zahlen, an wen auch immer. „Es ist nämlich so: Wenn du einmal Schutzgeld zahlst, wirst du es immer tun.“ Die Simseks haben Securitys. Und eine Menge Überwachungskameras, drinnen auf den Fluren sowie draußen. In einem Raum im Erdgeschoss sitzt ein Mitarbeiter ständig vor dutzenden Bildschirmen.

Das Hauptverfahren wird gar nicht erst eröffnet

Im Februar 2018, fast zwei Jahre nach der Razzia, reichte die Staatsanwaltschaft schließlich die Anklageschrift ein. Von den ursprünglichen Vorwürfen Menschenhandel und Zuhälterei war nichts mehr zu lesen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Vorwurf, die Prostituierten seien jahrelang scheinselbstständig gewesen, dem Staat seien dadurch Millionensummen an Steuereinnahmen entgangen. Außerdem hätten die Simseks die Behörden getäuscht und ihr Regelwerk verheimlicht, damit die Scheinselbstständigkeit nicht auffliegt. Beobachter vermuteten schon damals, die Anklage sei ein Versuch, wenigstens irgendeine Verurteilung zu erreichen, um nach der Riesenrazzia am Ende nicht völlig blamiert dazustehen.

Genau dies ist nun, neun weitere Monate später, umso mehr eingetreten: Am Freitag voriger Woche beschloss das Berliner Landgericht, die Anklage abzulehnen. Das Hauptverfahren wird erst gar nicht eröffnet, zu unplausibel erscheinen die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, zu ungenau und missverständlich sind ihre Ausführungen zum Sachverhalt. Es kommt sehr selten vor, dass eine Anklageschrift vom Gericht als derart schwach eingestuft wird, dass es nicht mal den Prozess eröffnet.

Gab es Druck aus der Politik?

Was also ist schiefgelaufen? Hatten die Ermittler falsche Informationen? Versprach sich einer den schnellen Karrieresprung durch einen Coup dieser Größenordnung? Gab es Druck aus der Politik? Wollte sich jemand mit einem Schlag gegen die vermeintliche organisierte Kriminalität profilieren – so kurz vor dem Berliner Wahlkampf?

Die Staatsanwaltschaft will sich nicht äußern. Auch nicht sagen, ob sie innerhalb von zehn Arbeitstagen Beschwerde gegen den Beschluss einlegen wird, dann käme der Fall erneut vor das Kammergericht. Das hatte den Anklägern schon im Sommer 2016 schlechte Arbeit bescheinigt, als es die Simseks aus der U-Haft entließ.

Zurück im Foyer.

„Herr Simsek, wären Sie auch so behandelt worden, wenn Sie Klaus oder Jürgen heißen würden und nicht Hakki?“

Simsek windet sich, dann formuliert er es diplomatisch. „Ich glaube, dass die große Mehrheit der Bevölkerung in dieser Frage keinen Unterschied zwischen Menschen macht. Aber eventuell gab es Ermittler, die nicht zu dieser Mehrheit gehören.“

Die so genannten Verrichtungszimmer haben verschiedene Themen, zum Beispiel einen Zebra-Look.
Die so genannten Verrichtungszimmer haben verschiedene Themen, zum Beispiel einen Zebra-Look.

© Doris Spiekermann-Klaas

In seinen ersten Tagen in Haft seien ihm alle wichtigen Dokumente auf Türkisch vorgelegt worden. „Was soll das?“, habe er gefragt, er könne doch kaum Türkisch lesen. „Wir sind hier aufgewachsen und deutsche Staatsbürger, wir sind durch und durch Deutsche.“ In der Öffentlichkeit seien sie stets als Türken oder Deutsch-Türken oder Kurden hingestellt worden. „Das passte natürlich besser ins Bild.“ Lasse sich leichter irgendwie mit Clankriminalität in Verbindung bringen.

Eine ungewöhnliche Unterstützerin haben die Simseks in der Berliner Frauenrechtlerin und Anwältin Seyran Ates gefunden. Sie kennt das Artemis gut. Für ein Buch über Prostitution hat sie mehrfach vor Ort recherchiert, mit Frauen gesprochen. Ates sagt: „Diese Razzia war nie zum Schutz der Prostituierten gedacht. Sonst hätten sie die Aktion über die ganze Stadt verteilen und vor allem die Frauen befreien können, die tatsächlich in Berlin in Wohnungen eingesperrt und zur Prostitution gezwungen werden.“ 

Sie planen einen Erweiterungsbau mit acht Etagen

Die Tatsache, dass das „Artemis in Berlin im ganzen Rotlicht-Milieu noch die beste Einrichtung für die Prostituierten ist, macht die Prostitution an sich für mich zwar nicht sehr viel besser.“ Aber sie beklage „die Heuchelei all derer, die Prostitution als ,Sexarbeit‘ beschreiben und einen Ort, an dem dies bestmöglich geschieht, unter Aufsicht der Behörden auseinandernehmen, aber dort wegschauen, wo es den Frauen wirklich um Stufen elender geht.“ Sie sagt, die Politik müsse sich endlich ernsthaft mit den Frauen, die diesem Geschäft nachgehen, und deren Anliegen beschäftigen. „Dazu sollten sie einfach mal, wie ich es getan habe, mit sehr vielen Prostituierten sprechen und sich die Einrichtungen von Innen anschauen.“

Wie geht es jetzt weiter? Die Simseks hoffen, dass alte Geschäftspartner und Freunde, die sich zurückgezogen hatten, zurückkehren. Außerdem planen sie seit längerem einen Erweiterungsbau: ein achtstöckiges sogenanntes „Laufhaus“. Das Bezirksamt hat bei einer Bau-Voranfrage die Geschosszahl abgelehnt, der Neubau würde sich nicht in die Umgebung einpassen. Nun muss das Bauamt entscheiden.

"Wir sind ja keine Idioten"

Gleichzeitig bekommen die Simseks seit Längerem Angebote, ihr Gelände zu verkaufen. Fünf Millionen hat es damals gekostet, inzwischen ist es ein Vielfaches wert. Denn direkt hinter dem Artemis liegt eine riesige bewaldete Brachfläche. Sie ist zu mehreren Seiten von Bahntrassen beziehungsweise der Stadtautobahn begrenzt. Die ideale Zufahrt, um das Gebiet erschließen und bebauen zu können, führt geradewegs über das Artemis-Grundstück. „Aber wir sind ja keine Idioten“, sagt Simsek. „Wir verkaufen das Areal nicht, der Wert wird weiter steigen.“ Simsek hofft, dass die schlimmen Zeiten jetzt vorbei sind.

Am Ende des Gesprächs wird er fröhlich. Ja, doch, einen Missstand haben sie bei der Razzia schon aufgedeckt, sagt er, einen ziemlichen Skandal. Die Beamten stießen im Vorratsraum im Keller auf mehrere Kisten Orangennektar – und fanden heraus: Dieser wird oben in der Lounge zwar kostenlos, aber laut Getränkekarte als „Orangensaft“ angeboten. Es ist allerdings so, dass Saft laut Gesetz 100 Prozent Fruchtgehalt haben muss, Nektar lediglich 50. Die Ermittler haben für das Vergehen ein Ordnungswidrigkeitsverfahren angestrengt.

Es wurde ebenfalls eingestellt.

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