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Berlin: Hilke Steiner (Geb. 1946)

„Nun müssen wir uns aber entscheiden“

Sie hatte einen schweren Start. Früh war sie sich selbst überlassen, früh musste sie lernen, auf Trost und Schutz zu verzichten. Geboren wurde Hilke in einem kleinen Dorf in Niedersachsen als sechstes von acht Kindern. Ihre Mutter starb früh. Der Vater, ein Waldarbeiter, beschloss, seiner Frau in den Tod zu folgen.

So verwundert es nicht, dass Hilke, kaum volljährig, heiratete, um das Nest, nach dem sie sich sehnte, selbst zu bauen. Doch die Ehe mit einem alkoholkranken Mann brachte statt der erhofften Geborgenheit neue Qual. Anfang 30 war sie und Mutter dreier Söhne, als sie im Krankenhaus den Mitpatienten Hans Steiner kennenlernte, einen Druckermeister, dessen Langeweile so weit gediehen war, dass er Hilke anbot, ihr die Karten zu legen. Schon seine Mutter hatte sich mit solchen Späßen die Zeit vertrieben.

Erste Karte: Sie werde mit den Kindern in eine große Stadt ziehen. Zweite Karte: Der Ehemann ist draußen. Die Dritte: Beruflicher Erfolg. Ansonsten: Er glaube nicht an Hokuspokus. Also vergaßen sie die Zukunft, stahlen sich über den Personalausgang aus dem Krankenhaus und verlebten einen schönen Nachmittag.

Hans Steiner war tatsächlich das Gegenteil von einem Zauberclown. Er hatte einen nüchternen Charakter und war streng katholisch erzogen. Eine Beziehung mit einer verheirateten Frau kam ihm, das beschwört er, nicht in den Sinn. Doch zum Abschied bat er sie, ihn anzurufen, falls es daheim wieder einmal unerträglich würde.

Der Anruf erreichte ihn nur drei Wochen später. Er fuhr im Auto zu ihr und hieß sie einsteigen. Wohin die Fahrt gehe, wollte sie wissen. Nach Berlin, antwortete er, wohin denn sonst.

Als Hans sich wenige Tage nach der Ankunft in der großen Stadt neben Hilke legte, sagte die flüchtige Ehefrau zu dem katholischen Mann: „Nun müssen wir uns aber entscheiden.“ Er entschied sich, sie zu heiraten. Ihre drei Söhne holten sie bald nach. Mit 37 Jahren gebar Hilke einen weiteren Sohn.

Die ersten beiden Weissagungen hatten sich erfüllt. Fehlte noch die dritte, der Erfolg. Lange musste Hans ihr zureden, bis Hilke sich traute, einen Führerschein zu machen. Dass sie die Prüfung bestand, erfüllte sie mit ungläubigem Stolz. Danach machte sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Das, was man Karriere nennt, begann mit einem gebrochenen Fuß und der Botschaft, dass sie nicht zurückkönne in ihren Beruf.

So wurde sie als „Qualitätsbeauftragte“ in die Personal- und Verwaltungsabteilung eines Lankwitzer Pflegeheims versetzt. Hilke Steiner nahm ihre Verantwortung ernster als es den Vorgesetzten lieb war: Mit der Privatisierung des Heims wurden fest angestellte, erfahrene Mitarbeiter durch Hilfskräfte ersetzt. Das, so sah sie es, war nicht gut für die Alten. Die Qualitätsbeauftragte begann, Briefe zu schreiben, in denen sie die Wiedereinstellung der Kolleginnen forderte.

Ihre Chefs stellten ihr zur Wahl, 8000 DM zu nehmen und sofort zu verschwinden oder Abmahnungen zu kassieren, bis es für eine Kündigung reichte. Hilke nahm das Geld und verschwand in den Vorruhestand beziehungsweise in den Keller ihres Einfamilienhauses.

Dort hatte sie eine Töpferscheibe, einen Brennofen und eine Unmenge Ton hineingestellt. Sie studierte Fachbücher und übte so lange, bis ihre Keramikfiguren aussahen wie perfekte Industrieprodukte. Vögel, Engel, Kränze, Kugeln, Witzfiguren wurden kistenweise die Treppen hoch und auf die Kunsthandwerksmärkte getragen. Hans Steiner druckte Visitenkarten und staunte über die unerschöpfliche Kraft seiner Frau.

Ihre letzte Arbeit steht unvollendet auf der Werkbank: Eine Eule, die unter dem linken Flügel ein Buch trägt. Hilke Steiner starb mitten in der Nacht, im Schlaf, ohne Vorankündigung.

80 Gedichte der Trauer hat Hans Steiner seither verfasst. Er streichelt den Hund, den Hilke ihm letzten Sommer geschenkt hat: „Damit du nicht alleine bist.“ „Aber ich habe doch dich“, hatte er sich damals gewundert. Anne Jelena Schulte

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