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Mahlzeit. Dieses kleine Eichhörnchen lief der Familie des Autors zu. Es erhielt gesüßten Fencheltee mit einer Spritze ins Maul.

© Kevin P. Hoffmann

Hilflose Eichhörnchen: Aufpäppeln mit Kirschkernkissen und Fencheltee

Hunger und Durst: Wenn nichts mehr geht, hängen sich junge Eichhörnchen an die Fersen von Menschen. Wem das passiert, der lernt die unbekannte Welt der Berliner Hörnchenretter kennen.

Unsere vierjährige Tochter hat es entdeckt – oder besser: Es entdeckte sie! „Papa, guck mal: ein Eichhörnchen!“, sagte sie bei einem Spaziergang am Samstagmittag. Tatsächlich: Ein besonders kleines Hörnchen hoppelte quer über den Bürgersteig auf sie zu und umwuselte ihre Schuhe. Das war süß irgendwie – aber auch sonderbar, dachte ich. Noch nie war ich näher als zwei oder drei Meter an so eine Kreatur herangekommen. Eichhörnchen sind in der Regel scheu, und das aus gutem Grund: Dem Allesfresser Mensch sollte kein wildes Tier trauen. Mir behagte diese Kontaktaufnahme nicht: Was bringt das Kleine aus dem Wald mit? Flöhe vielleicht? Tollwut?

Auf den dritten Blick aber konnte auch ich mich der Niedlichkeit nicht entziehen: das rotbraune Fell, die großen Knopfaufen, der buschige Schwanz. Zwei oder drei Minuten „spielten“ wir mit dem Eichhörnchen. Oder es mit uns? „Aber nicht anfassen, Schatz!“, sagte ich. Es krabbelte auch meine Hosenbeine hoch, kam aber komischerweise nie höher als bis zum Knie, hoppelte dann wieder zur Tochter.

Es klammert sich am Schuh fest

Wir hatten es nur noch rund 50 Meter bis zur Gartenpforte und den 13 Stufen hoch zur Haustür. Für diesen Weg brauchten wir fast zehn Minuten. Denn jeder einzelne Schritt von mir und meiner kleinen Tochter musste genau überlegt sein: Das Hörnchen war fixiert auf unsere Füße. Wir hatten Sorge, darauf zu treten. Also entwickelten wir eine Taktik: Wir bewegten uns abwechselnd nur ein paar Schritte. Das Tier spurtete zum jeweils Führenden. Dann konnte der andere aufholen und noch zwei bis drei Schritte vorwärts: Strecke machen, bevor das Hörnchen wieder einen Schuh umklammerte.

Die Eichhörnchenretter empfehlen: Eine Kiste mit Handtüchern und einem Kirschkernkissen oder einer Wärmflasche.
Die Eichhörnchenretter empfehlen: Eine Kiste mit Handtüchern und einem Kirschkernkissen oder einer Wärmflasche.

© Kevin P. Hoffmann

Ich war ratlos. So ein tierisches Verhalten hatte ich noch nie erlebt. Wir hatten es bis auf die oberste Stufe unseres Hauses geschafft. Ich wollte das Hörnchen aber nicht in der Wohnung haben. Es hat Zähne. Und Läuse, Flöhe, Tollwut? Keine List half. Das Tier schlüpfte mit uns durch die Haustür ins Treppenhaus. Ich war schon dabei, es dezent mit dem Stiefel wieder in die Natur zu schieben, als zwei Nachbarn den gemeinsamen Garten betraten: „Schaut mal, wir haben ein Eichhörnchen.“ Wir waren uns einig, das hier irgendetwas nicht stimmt.

Google-Suche: Es ist wohl ein Waisenkind

Seit wir nur von einer Kopfsteinpflasterstraße von einem Waldrand in Köpenick getrennt leben, erfahren wir dann und wann, wie „die Natur“ die von Menschen gesetzten Grenzen überwindet. In Friedrichshain kannten wir das nicht: Mal spinnt eine Spinne von der Größe, die man nur aus dem Terrarium am Zoo kennt, auf dem Balkon ihr Netz. Ein anderes Mal wackelt ein mehr-als-Hund-großes Tier im Kegel der Autoscheinwerfer nachts über die Straße. Aber das hier?

Drei Nachbarn, drei Smartphones, drei Google-Suchen. Ergebnis: Dieses Eichhörnchenkind hat offenbar keine Mutter mehr. Es hat Hunger und Durst. Erst in der allergrößten Not wendet es sich an den Menschen. Diese Information fanden wir auf der Seite des Vereins Eichhörnchen-Hilfe Berlin/Brandenburg. Dort gibt es auch ein erklärendes Video.

Das Tier braucht Wärme! Am besten einen Karton oder eine Kiste mit mindestens einem Handtuch, eine Fleece-Tuch, dazu einen Taschenwärmer oder ein in der Mikrowelle aufgewärmtes Kirschkernkissen. Und eine Wärmflasche kann man unter die Kiste stellen. Weiter braucht es Flüssigkeit: 100 Milliliter Fencheltee, einen Löffel Traubenzucker und ein Prise Salz dazu. Das verpasst man dem Tier mit einer nadellosen Spritze. Und, darauf wäre ich nie gekommen: Eichhörnchenkinder können nicht selbstständig Wasser lassen. Mutter hilft. Ist die nicht da, muss Mensch mit einem weichen Tuch zwischen den Beinchen reiben, um den Reflex auszulösen. Andernfalls verendet es am eigenen Urin.

Wärmekiste in einem Einkaufskorb

Wir hatten alle Zutaten im Haus. Ich nahm mir ein Herz, schnappte „Lissy“, wie meine Tochter das Tierchen voreilig getauft hatte, und trug sie ins Haus. Es schlief sofort ein in meinen 37 Grad warmen Händen, die ich zu einer Kugel geformt hatte, in Sorge, es würde wegspringen und erst Jahre später mumifiziert hinter einem Kleiderschrank wieder auftauchen. Es erhielt bei uns seine Wärmekiste in einem Einkaufskorb, Zuckerfencheltee – und Ruhe.

Am frühen Abend wählte ich die Nummer des Eichhörnchen Notruf e.V., der sich bundesweit um diese Tiere kümmert. Eine Frau in Britz würde unser Tier aufnehmen. Für den Bruchteil einer Sekunden kam mir der Gedanke, das Tier am Abend dem Nahrungskreislauf des Waldes zuzuführen. Marder fressen Hörnchen. Und der Uhu. Auch die wollen leben, oder? Aber da hatten Tochter und mein siebenjähriger Sohn Lissy schon zum Familienmitglied erklärt. Und Nachbarskinder waren eingeladen, um bei der zweiten Zuckerteefütterung zu beobachten.

Am Abend wärmte ich das Kirschkernkissen ein letztes Mal auf, trug den Korb mit dem schwachen Hörnchen zum Auto und fuhr die 18 Kilometer über die Stadtautobahn nach Neukölln. Unser Töchterchen vergoss viele Tränen, ihr großer Bruder, sieben Jahre alt, tröstete so gut es ging.

Anne Leistikow öffnete ihre Privatwohnung. Sie hatte bereits eine kleine Schlafbox in ihrer Küche vorgerwärmt und eine Nährlösung. Seit 15 Jahren päppelt sie Eichhörnchen auf, sagte sie. Ihrer Einschätzung nach sei dieses etwa sechs Wochen alte Jungtier seit drei Tagen ohne Mutter. Es sei dehydriert, hätte wohl keinen weiteren Tag überlebt. Manchmal hat ein Tier auch Flöhe. Behandelt man das nicht sofort, breiten die sich in der Wohnung aus. Sie habe vor Jahren mal ihre Schlafzimmer sanieren müssen. Tollwut sei aber nicht zu befürchten. Sie hat auch mal ein erst zwei Tage altes Tier aufgezogen. Das musste alle zwei Stunden gefüttert werden - auch in der Nacht.

„Damals habe ich über Wochen im Wohnzimmer geschlafen. Mein Mann hat das nicht mitgemacht“, sagt sie. Leistikow zeigte mir die große Voliere in ihrem Wohnzimmer, darin zwei größere und aufgeweckte Eichhörnchen. Bald könnten die in eine Freiluft-Voliere umziehen, wo sie wieder an die Kälte gewöhnt – und vom Menschen entwöhnt werden. Die Weibchen, erklärt sie, bleiben übrigens dem Menschen nach der mehrwöchigen Rettung in der Regel treu. Sie kommen immer wieder angesprungen. Die Männchen sieht man in hingegen nicht wieder. Sie suchen sich ein Revier.

Ich habe das Tier gebracht, da wir es wegen Berufstätigkeit nicht selbst aufziehen können. Im Berliner Süden, höre ich, habe ihr Verein sonst kaum eine andere Station. Aber könnten wir es – theoretisch wieder abholen? Ja, wenn man eine Voliere mit drei bis vier Quadratmeter großen Grundfläche habe, die die Tier vor Nachbars Katze schütze, erklärt die Frau. Sie bietet aber an, uns alle ein bis zwei Tage ein Foto von Lissy zu schicken. Auch dürfen unsere Kinder in drei Wochen gern zu Besuch kommen, um sich zu überzeugen, dass das Eichhörnchen hier gut aufgehoben ist.

Soll man in den Kreislauf der Natur eingreifen?

Auf der Heimfahrt kam der Gedanke: War es richtig, in den Kreislauf der Natur einzugreifen? Wären meine Tochter und ich nicht zufällig an dieser Stelle vorbeigekommen, hätten Marder oder Nachbars Katze den Fall geklärt. Aber wir sind nun einmal vorbeigekommen. So durften unsere Kinder erfahren, was es heißt, Verantwortung für eine kleine Kreatur zu übernehmen, flexibel zu sein, Tagespläne über den Haufen zu werfen – auch wenn es nur um ein ganz kleines Leben und den Tod geht. Und wir durften spontan Menschen kennenlernen, die unendlich viel Zeit, Geld und Herz geben aus tiefem Respekt vor der Schöpfung, dem Leben.

Anne Leistikow aus Berlin Britz kümmert sich seit 15 Jahren um Eichhörnchen. Hier verabreicht dem abgelieferten Tier eine Nährlösung.
Anne Leistikow aus Berlin Britz kümmert sich seit 15 Jahren um Eichhörnchen. Hier verabreicht dem abgelieferten Tier eine Nährlösung.

© Kevin P. Hoffmann

200 bis 300 Euro koste die mehrwöchige Pflege eines Eichhörnchens, erklärte mir Tanya Lenn, die mit ihrem Verein Eichhörnchen-Hilfe in Teltow eine große Aufzuchtstatuon betreibt. 40 Tiere habe sie seit Januar aufgezogen und ausgewildert. „Viele Leute finden die Tiere süß, haben aber nicht die Geduld, es über Wochen richtig zu pflegen“, sagt sie. Man könne beobachten, dass immer mehr schwache Tiere angeliefert werden. Der Klimawandel und Umweltgifte mache den Eichhörnchen, ähnlich wie den Igeln, zu schaffen. Jede Hand werde gebraucht. Und jeder Euro.

"Man muss viel Geduld mitbringen"

Manche Berliner würden hilflose Eichhörnchen auch bei der Kleintierklinik der FU in Düppel abgeben. Dort würde das Tier medizinisch betreut. Man habe dort aber nicht die Möglichkeiten, es langsam wieder an die Natur zu gewöhnen, gibt Lenn zu bedenken.

Der bundesweit aktive Verein Eichhörnchen-Notruf betreibt ein Netzwerk mit rund 150 bis 160 Freiwilligen, die als Annahme- und Pflegestelle für Tiere bereitstehen. In Berlin und Brandenburg gibt es rund 15 Stellen. Die Vorsitzende Christine Saretz aus Kleinmachnow südlich von Berlin schätzt, dass ihre Mitglieder in Berlin und Brandenburg jedes Jahr rund 700 Tiere pflegen. Sie schätzt die Kosten auf rund 30 Euro pro Tier für eine mehrwöchige Pflege.

200 bis 300 Euro seien nur realistisch, wenn man eigens Voliere anschaffe und darin wenige Tiere pflege. Auch Saretz freut sich über Unterstützer, warnt Interessenten aber davor, sich die Aufgabe zu leicht vorzustellen. "Sich zu sagen, ich habe doch auch einen Garten und will helfen, genügt nicht. Man muss schon viel Geduld mitbringen".

Das Ziel der Helfer: Das Tier soll zurück in die Natur. Das Foto zeigt ein gesundes Eichhörnchen.
Das Ziel der Helfer: Das Tier soll zurück in die Natur. Das Foto zeigt ein gesundes Eichhörnchen.

© Axel Heimken/dpa

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