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Schlafplatz in Berlin.

© Paul Zinken/dpa

Hilfe für Berlins Obdachlose: Unterwegs in der Kälte der Nacht

Nicht alle Obdachlosen lassen sich helfen. Lutz Müller-Bohlen ist trotzdem für sie da. Wenn der Winter kommt – und die Stadt nicht mehr wegsehen kann.

Die Bierflasche schlägt wenige Meter von seinem Kopf entfernt auf dem Boden auf. Olaf rührt sich nicht. Den hellblauen Schlafsack hat er bis hoch zur Nase gezogen. Er ist betrunken, nicht nur von den zwei Dosen Warsteiner, die auf seinem Rollator stehen. Am U-Bahnhof Lichtenberg prügeln vor ihm zwei junge Männer aufeinander ein. Einem rinnt Blut vom Hinterkopf, das Taschentuch in seiner Hand färbt sich rot. Es ist 22 Uhr. Die Nacht hat erst begonnen.

Nach und nach eilen Polizisten in den Bahnhof. Sieben sind es am Ende, mit Schutzwesten und Pfefferspray, sie vernehmen Zeugen. Olaf beachten sie nicht. Es ist ihm ganz recht so. Ein Mitarbeiter des Reinigungsteams kehrt routiniert die Glasscherben vor seinem Schlafplatz zusammen. Als sich die Aufregung gelegt hat, tritt doch noch ein Mann auf Olaf zu.

Sein Name ist Lutz Müller-Bohlen. 56 Jahre alt, ausgebildeter Krankenpfleger, mit 30 Jahren Erfahrung im psychiatrischen Bereich. Er setzt sich zu Olaf und reicht ihm die Hand. „Keine Sorge, wir sind gleich wieder weg“, sagt Müller-Bohlen beruhigend. „Soll ich später noch mal vorbeikommen?“ Olaf nickt. Es ist ein erster Schritt. Einer, der ihm vielleicht das Leben retten wird.

Olaf weiß das nicht, aber das Zwischendeck des U-Bahnhofs Lichtenberg, wo er seine Isomatte ausgerollt hat, ist einer von zwei Standorten in der Stadt, die im Winter nachts für obdachlose Menschen offen gehalten werden. Der andere ist der U-Bahnhof Moritzplatz in Kreuzberg.

Es war ein Kompromiss in letzter Minute. Bevor es richtig kalt wird. Monatelang hatten Sozialverwaltung und BVG um ein Hilfskonzept gerungen. Die Verkehrsbetriebe wollten nicht mehr wie in den Vorjahren U-Bahnhöfe einfach offen lassen. Zu gefährlich, hieß es. Der Starkstrom im Gleisbett sei lebensbedrohlich, weil viele Obdachlose betrunken oder im Drogenrausch in die Tunnel liefen, auf die Gleise fielen, die Gefahr nicht einschätzen könnten. Es gab keine Toiletten, keine Betreuung. Am Freitagabend dann die Einigung: Zwei Bahnhöfe bleiben ab sofort offen – und der Senat sorgt für Toiletten und Sozialarbeiter, die versuchen, die Menschen in Notunterkünfte zu vermitteln.

Es geht darum, Vertrauen aufzubauen

In den folgenden Tagen sollen beheizte Container mit Platz für 16 Personen an beiden Standorten aufgestellt werden. Dort kann man sich umziehen, einen Tee trinken, ins Gespräch kommen. Noch stehen nur die Dixiklos. Die Stadtmission, die den Moritzplatz betreuen soll, konnte auf die Schnelle gar kein Personal organisieren, will aber so bald wie möglich beginnen. In Lichtenberg ist für die Sozialgenossenschaft Karuna erst einmal nur Lutz Müller-Bohlen unterwegs.

In Hamburg sollen in diesem Herbst bereits drei obdachlose Menschen an Unterkühlung gestorben sein, auch wenn sich die genaue Todesursache nicht immer zweifelsfrei feststellen lässt. Bis zu 300 Kältetote gab es seit der Wiedervereinigung in Deutschland. Olaf soll nicht der Nächste sein.

Unterwegs in Lichtenberg mit Sozialstaatssekretär Alexander Fischer und Sozialarbeiter Lutz Müller-Bohlen (rechts).
Unterwegs in Lichtenberg mit Sozialstaatssekretär Alexander Fischer und Sozialarbeiter Lutz Müller-Bohlen (rechts).

© Sidney Gennies

Drei Grad zeigt das Thermometer, die Feuchtigkeit kriecht durch alle Decken und die Kleidung. Im Lichtenberger Zwischendeck ist es kaum wärmer. Müller-Bohlen lässt Olaf trotzdem liegen. Er muss. „Es geht vor allem darum, Vertrauen aufzubauen“, sagt er. „Das kann Tage dauern. Einfach so gegen den Willen der Leute den Kältebus zu rufen, würde nichts bringen.“

Müller-Bohlen schultert seinen schwarzen Rucksack und setzt seine Runde fort. Dabei hat er immer ein paar Gummihandschuhe und Desinfektionsmittel, weil man nie wisse, ob jemand verletzt sei und Hilfe brauche, da kriege man den Krankenpfleger nicht aus ihm raus; außerdem einen Extraakku fürs Handy und – ganz wichtig – zwei Schachteln Kippen. „Das sind Türöffner“, sagt Müller–Bohlen. Auch Olaf lässt er zwei Zigaretten da.

Es ist nicht so, dass es in Berlin keine Hilfe für Obdachlose gäbe. Bis zu 10 000 Menschen – schätzt man, denn erfasst hat das niemand – leben hier auf der Straße. Tatsächlich hat der Senat die Mittel für Sozialarbeit von

467.000 Euro auf etwas mehr als eine Million Euro aufgestockt. Die Plätze in Notunterkünften sind längst nicht alle belegt, die Auslastung liegt momentan bei 80 Prozent. Doch wer diese Angebote nutzen will, muss das können und wollen. Muss in der Lage sein, sich zu kümmern, sich an Regeln zu halten. Muss in den Unterkünften eventuell mit Gewalt klarkommen, mit Diebstahl und Belästigung, mit Lärm. Und mit kurzen Schlafphasen, weil alle am Morgen wieder rausgeschickt werden. Olaf gehört nicht zu diesen Menschen. Menschen wie er sind besonders gefährdet.

Die Kälte macht das Elend unübersehbar

In der Bahnhofshalle trifft Müller-Bohlen einen Mann in einer Camouflage-Winterjacke. Sein linkes Hosenbein ist hochgekrempelt und offenbart einen Verband am Unterschenkel. Müller-Bohlen stellt sich vor. Ob er wisse, dass er ein paar Hundert Meter weiter im U-Bahnhof schlafen dürfe, offiziell, dass ihn da keiner wegjage. Ob er wisse, dass es um die Ecke jetzt Toiletten gebe. Der Mann schüttelt den Kopf und balanciert sein Bier an den Mund. Aber er wirkt nicht uninteressiert. Müller-Bohlen reicht ihm eine Kippe. Torsten heiße er, sagt der Mann, 52 Jahre alt. „Die Wunde musst du behandeln lassen, so was kann dich das Bein kosten“, sagt Müller-Bohlen. „Dann isses halt weg“, nuschelt Torsten. „Du hast dein Leben noch vor dir, da brauchste dein Bein.“ Torsten zuckt die Schultern.

In ein paar Metern Entfernung beobachtet Alexander Fischer diese Szene. Fischer ist Staatssekretär in der Sozialverwaltung. Er hat den Deal mit der BVG verhandelt und ist zum Bahnhof Lichtenberg gekommen, um in der ersten Nacht dabei zu sein, wenn Müller-Bohlen und einige Freiwillige Kontakte knüpfen. „Wir sind uns alle einig, dass ein Bahnhof kein Platz für einen Menschen ist“, sagt er. Aber die Obdachlosen seien nun einmal hier. „Wichtig ist, dass wir sie motivieren, ins Hilfssystem zu kommen. Zwingen können wir sie nicht.“

Es spricht eine Hilflosigkeit aus diesen Worten, die Berlin in jedem Winter aufs Neue erfasst. Immer dann, wenn die Kälte das Elend im Straßenbild unübersehbar macht. Dann werden in sozialen Netzwerken wieder die Nummern der Kältebusse geteilt, werden Orte für Obdachlose geöffnet, an denen man sie sonst immer loswerden will. An denen der Wachschutz bisher angewiesen war, ebenjene Leute zu verjagen, die kein Ticket haben. An denen in den vergangen Jahren zweimal Obdachlose angezündet wurden, die schutzlos in einem Bahnhof schliefen.

Typisches Berliner Provisorium

Was jedes Jahr fehlt, sind Konzepte für diejenigen, die nicht mehr selbst um Hilfe bitten können. Geld, sagt Fischer, sei dabei nachrangig. Das jetzt gestartete Projekt an den Kältebahnhöfen werde etwas unter 100 000 Euro kosten. Obdachlosigkeit, so wie ihr bisher begegnet werde, sei unheimlich teuer. Ein Monat in einer Notunterkunft kostet den Staat im günstigsten Fall 500 Euro. Für ein Bett. Der Senat hat deswegen im Januar bereits die Losung ausgebracht: Jeder Obdachlose soll eine feste Unterkunft erhalten, möglichst eine eigene Wohnung. Davon abgesehen, dass der Wohnungsmarkt das schon für solvente Mieter nicht hergibt und viele Obdachlose sich keinen festen Wohnsitz vorstellen können, ist man von diesem Ziel noch weit entfernt.

Stattdessen wird die Notlösung für viele zum typischen Berliner Provisorium: Zwölf Prozent der Betroffenen leben länger als drei Jahre nachts in Noteinrichtungen, 21 Prozent zwischen ein und zwei Jahren, 17 Prozent zwischen sieben Monaten und einem Jahr.

Lutz Müller-Bohlen bemüht sich um Olaf.
Lutz Müller-Bohlen bemüht sich um Olaf.

© Sidney Gennies

Alexander Fischer glaubt, in der Obdachlosenhilfe verlaufe es eben nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. „Eine gute Idee wird am Geld nicht scheitern“, verspricht er. Ob das neue Konzept an den Bahnhöfen gut ist, muss sich zeigen. Falls ja, sollen im nächsten Jahr noch mehr Bahnhöfe mit Wärmecontainern und Sozialarbeitern ausgerüstet werden.

Torsten ist mit seinem lädierten Bein mittlerweile Müller-Bohlen nach draußen gefolgt. Er hat noch bei McDonald’s einen Cheeseburger bekommen und einen Kaffee, seine anfängliche Skepsis hat er abgelegt. Kalt ist ihm auch. Müller-Bohlen darf den Kältebus anrufen. Er greift sofort zum Handy und hat Glück. Der Bus ist gerade in der Nähe. Nach zehn Minuten fährt er vor. Drinnen sitzt schon ein polnischer Obdachloser.

Während Torsten sein Bier abstürzt, das er nicht mit in die Unterkunft nehmen darf, steigt der Pole aus, torkelt ein paar Schritte und pinkelt auf den Bahnhofsvorplatz. Mit Mühe überzeugt ihn der Fahrer des Busses anschließend, wieder einzusteigen. Auch Torsten setzt sich dazu. Der Bus verschwindet in der Nacht. „Ich glaube nicht, dass es noch lange so ruhig bleibt“, sagt Müller-Bohlen. Die Nachricht von den Kältebahnhöfen werde sich bald herumsprechen.

Hoffen auf die Solidarität der Gesellschaft

Er ist zufrieden. Auch wenn er weiß, dass sie mit ihrer Arbeit hier am Anfang stehen. Dreieinhalb Stellen sind für das Projekt in Lichtenberg zugesagt. Eilig haben sie noch am Freitag eine Jobausschreibung online gestellt. Weil es nicht genug Sozialpädagogen in Berlin gibt, ist mit Staatssekretär Fischer eine Ausnahme vereinbart. Bewerben können sich jetzt auch Menschen, die nur eine Ausbildung zum Sozialassistenten haben. Und auch die schnell zu finden, kann schwierig werden. „Wir sind nicht die, die die Welt retten. Wir sind auf die Solidarität der Zivilgesellschaft angewiesen. Auf Freiwillige, die helfen wollen“, sagt Müller-Bohlen.

Es ist mittlerweile fast ein Uhr. Auf dem Zwischendeck des Bahnhofs liegt immer noch Olaf. Mit Müller-Bohlen schlägt er zum Abschied noch mal ein. Aber jetzt wolle er wirklich seine Ruhe.

Müller-Bohlen läuft noch ein letztes Mal zum anderen Ausgang des Bahnhofs. Da spricht ihn eine junge Frau an, Mitte 20, sehr betrunken. Sie ist auf dem Weg zur nächsten Party, aber sie will wissen, was er hier macht. Lutz Müller-Bohlen erklärt es ihr und plötzlich guckt sie sehr traurig. „Kann ich dir Geld geben?“, fragt sie. „Nein“, sagt Müller–Bohlen. „Aber du kannst uns Bescheid geben, wenn du jemanden siehst, der Hilfe braucht, wir sind jede Nacht hier.“ Sie zögert, dann fällt sie ihm um den Hals. Bedankt sich, für den Job, den Müller-Bohlen und die anderen machen. Er lässt es geschehen. Sein Arbeitsvertrag beginnt offiziell am ersten Dezember.

Zwischen dem 1. November und dem 31. März ist von 21.00 Uhr abends bis 3.00 Uhr morgens der Kältebus der Berliner Stadtmission unterwegs und erreichbar unter 0178 523 58 38. Wichtig: Der oder die Bedürftige möchte wirklich abgeholt werden.

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