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Teure Technik. Im Sana Klinikum Lichtenberg werden spezielle Augmented-Reality-Brillen bei Herzoperationen eingesetzt. Die Brille selbst ist dabei der „billigere“ Teil. Sie kostet um die 4000 Euro. Für die medizinische Spezialsoftware muss die Klinik das Sechsfache berappen. Doch das lohne sich, ist Chefarzt Olaf Göing überzeugt. Die Technik diene der Sicherheit der Patienten.

© Kai-Uwe Heinrich

High Tech in der Kardiologie: Wenn Herzen im Katheterlabor schweben

Neue Technik im Operationssaal: Augmented Reality. Mithilfe der High-Tech-Brille kann die Kardiologin das Herz ihrer Patientin anfassen, drehen, vergrößern und sogar öffnen – ohne es zu berühren.

Auf den ersten Blick fühlt man sich an einen Computerspieler erinnert, der in virtuelle Welten versunken ist: Niki Spyrantis hält ihre Arme in der Luft, macht Bewegungen, als greife und bewege sie etwas vor sich Schwebendes, das alle anderen hier im Katheterlabor des Sana-Klinikums Lichtenberg nicht sehen können. Denn nur die Oberärztin hat auf ihrer Nase diese monströse Maske, die der realen Umgebung des Behandlungsraums einige nur virtuell existierende Dinge und Messdaten hinzufügt. Experten nennen das deshalb auch „Augmented Reality“ (AR), erweiterte Realität. Im Gegensatz zu ihr steht die „Virtual Reality“ (VR), in der die Brille den Augen des Trägers eine komplett virtuelle, also real nicht existierende Umgebung zeigt.

Direkt über der Behandlungsliege, auf der die leicht narkotisierte Patientin dem anstehenden Eingriff entgegendämmert, schwebt deren schlagendes Herz. Nur Niki Spyrantis kann es so durch ihre AR-Brille sehen. Das 3-D-Abbild inklusive der umgebenden Gefäße war zuvor bei einer Untersuchung mit dem Computer-Tomografen (CT) entstanden.

Sie dreht das virtuelle 3-D-Herz mit der Hand

Die Oberärztin gestikuliert im Raum. Sie öffnet mit den Händen virtuelle Menüs, holt sich weitere Informationen in den Blick. Sie vergrößert und dreht das Herz ihrer Patientin Hedwig Kurz (Name geändert). Spyrantis dreht solange, bis sich das virtuelle 3-D-Organ exakt in der gleichen Position und Größe befindet, wie das vom Röntgengerät des Katheters auf den danebenliegenden Monitor gelieferte Livevideo. Das Röntgenbild zeigt die Herzkranzgefäße, wenn die Ärztin Kontrastmittel in die Adern spritzt. Schemenhaft sind auch der Herzmuskel und andere Gewebeteile zu erkennen, wenn das Kontrastmittel, das die Röntgenstrahlen reflektiert, auch hier hindurchfließt. Spyrantis vergleicht beide Aufnahmen. So kann sie sehen, wo genau das Septum, also die Herzscheidewand, verläuft, das im Röntgenbild nur schwach zu erkennen ist. Hier muss sie gleich mit dem Katheter und mithilfe der AR-Brille operieren.

Spyrantis soll Erfahrungen sammeln mit der neuen OP-Methode. Als eine der ersten Kliniken in Deutschland will das Sana Klinikum Lichtenberg die AR-Brille für kardiologische Eingriffe einsetzen. Die „HoloLens“ getaufte Hardware wurde von Microsoft vor allem für den professionellen Einsatz entwickelt. Designer nutzen sie, um neue Produkte zu entwerfen, Architekten, um Gebäudepläne zu verbessern, oder Ingenieure, um ihre Berechnungen zu prüfen.

Eine Hamburger Firma liefert die Software

Dass die HoloLens auch im Operationssaal mit medizinischen Bildern funktioniert, liegt unter anderen an der Software von ApoQlar. Die Hamburger Firma liefert das Know-how, um medizinische Inhalte in die AR-Brille einzuspeisen.

Weil es hier im Sana-Klinikum darum geht, Erfahrungen mit der Technik zu sammeln, sind zwei ApoQlar-Experten mit vor Ort. Und auch der Chefarzt der Kardiologie am Sana-Klinikum, Olaf Göing, ist dazugekommen, nicht weil er den Fähigkeiten seiner Oberärztin misstrauen würde, sondern um sich ein Bild von der neuen Technik zu machen.

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„Weltweit als innovativ bekannte Kliniken wie die Mayo-Klinik, die Stanford-Universitätsklinik und die Cleveland-Klinik setzen die HoloLens bereits für Operationen ein“, sagt Göing. Das Sana Klinikum sei weltweit eine der ersten Kliniken, die nun „kardiologisch in das Thema reingehen“. Die Brille selbst ist dabei der „billigere“ Teil. Sie kostet um die 4000 Euro. Für die medizinische Spezialsoftware muss die Klinik das Sechsfache berappen. Doch das lohne sich, ist Chefarzt Göing überzeugt. Die Technik diene der Sicherheit der Patienten. So wie der von Hedwig Kurz, die Oberärztin Spyrantis gleich operieren wird. Die Berlinerin ist 80 Jahre alt und leidet unter einer Bradyarrhythmie, also einer Herzrythmusstörung, die mit einer sehr geringen Herzfrequenz von um die 30 Schläge pro Minute einhergeht. Um das Problem in den Griff zu bekommen, benötigt Hedwig Kurz einen sogenannten Kapselschrittmacher, der ohne die üblichen Elektrodenkabel im rechten Herzvorhof und in der rechten Herzkammer auskommt. Die Geräte, die wesentlich teurer sind als herkömmliche Schrittmachermodelle, kommen vor allem dann zum Einsatz, wenn der Patient unter bestimmten Risikofaktoren leidet, zum Beispiel einem Diabetes, der die Anfälligkeit des Betroffenen für Infektionen erhöht. „Ohne die Sonden ist das Infektionsrisiko geringer“, sagt Göing.

Es ist schwierig, den Kapselschrittmacher exakt zu platzieren

Der Kapselschrittmacher wird per Katheter direkt auf die Herzscheidewand gesetzt. Dort gibt er die den Herzschlag steuernden Stromimpulse ab und misst die elektrische Aktivität des Muskels, um nicht unnötigerweise zu „feuern“. Die Scheidewand bewegt sich zwar nicht so stark wie der pumpende Herzmuskel, in dessen Hohlräume die Elektroden des klassischen Schrittmachers geführt werden müssen. „Trotzdem ist es schwieriger, den Kapselschrittmacher exakt zu platzieren, sodass er fest sitzt und die richtigen Stromimpulse abgibt, wenn dies nötig ist“, sagt Chefarzt Göing. Oberärztin Spyrantis, die den Eingriff jetzt mit Unterstützung durch die AR-Brille durchführt, muss den Schrittmacher an der richtigen Stelle so in die Scheidewand drücken, dass sich mindestens zwei von vier „Füßchen“ ins Gewebe krallen, und das auch noch ausreichend tief, sodass der Stromimpuls stark genug im Muskelgewebe ankommt, um eine Kontraktion auszulösen.

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Bei der Patientin gibt es viele Risikofaktoren

Um den Kapselschrittmacher an den richtigen Ort zu führen, wird er an der Spitze eines Katheters von der Beinvene bis ans Herz geschoben. Da die Kapsel gut sieben Millimeter Durchmesser hat, ist der Katheterschlauch entsprechend dicker als üblich. Die Probleme dabei: Zum einen kann man mit dem Katheter nur schwer einen schiebenden Druck ausüben, um den Schrittmacher im Gewebe zu verankern. Zum anderen ist die Herzscheidewand auf Röntgenaufnahmen nur schwer sichtbar zu machen. Zwar wird über den Katheter Kontrastmittel hineingedrückt, das dann auf dem Röntgenbild sichtbar wird. Aber das liefert nur ungenaue Bilder, je nachdem, wie das Kontrastmittel an der Austrittsstelle der winzigen Kanüle kurz am Septum entlang fließt.

Mit Maske. Oberärztin Niki Spyrantis trägt eine AR-Brille und macht Bewegungen, als greife und bewege sie etwas vor sich Schwebendes. Foto: Kai-Uwe Heinrich
Mit Maske. Oberärztin Niki Spyrantis trägt eine AR-Brille und macht Bewegungen, als greife und bewege sie etwas vor sich Schwebendes. Foto: Kai-Uwe Heinrich

© Kai-Uwe Heinrich

Bei der 80-jährigen Patientin Hedwig Kurz gibt es weitere Risikofaktoren: neben dem genannten Diabetes die chronische Lungenkrankheit COPD, Bluthochdruck, eine ausgetauschte Aortenklappe und schließlich auch noch eine Niereninsuffizienz. Letztere ist für Göing das Hauptargument, hier die AR-Brille zu testen. Denn weil es so schwierig ist, das Septum mit dem Kontrastmittel sichtbar zu machen, „schießen“ Ärzte lieber mehrmals Kontrastmittel hinein, um die Kapsel sicher zu platzieren. Doch das Mittel ist eine Belastung für die Nieren, könnte unter Umständen sogar einen Komplettausfall des Reinigungsorgans verursachen. „Die Kontrolle, ob das Gerät korrekt platziert wurde, ist durch die AR-Brille einfacher“, sagt Göing. Denn mit den dreidimensionalen CT-Aufnahmen des Herzens, die sich mit der Brille virtuell bewegen und genauer anschauen lassen, ist der parallele Kontrollblick zwischen der üblichen Röntgenaufnahme des Herzkatheters, die die Position des Schrittmachers zeigt, und dem CT, das die Gewebestrukturen klar und vollständig darstellt, exakter möglich. „Ich kann mir das Bild in der gleichen Größe in die gleiche Position neben oder auf die Röntgenaufnahme legen und sofort kontrollieren, ob die Kapsel korrekt positioniert ist.“

Die metallische Kapsel schwebt im hellen Raum

Der Eingriff beginnt. Die Oberärztin geht mit dem Katheterschlauch über die Leistenvene hinein und schiebt dann den Katheter mit dem Kapselschrittmacher über die Herzkammer bis ans Septum heran. Dann wird der Schrittmacher mithilfe eines sogenannten Schwanenhalses – ein flexibles und gleichzeitig festes Stück Schlauch aus Metall – an das Septum gedrückt und dort mit den Füßen verankert. Die metallische Kapsel ist auf dem Röntgenbild deutlich erkennbar. Sie schwebt scheinbar im hellen Raum, auf dem sich sonst nur in hellen Schatten die Herzstrukturen erahnen lassen. Ebenfalls sichtbar ist der Katheterschlauch, der die Kapsel an den Ort gebracht hat.

Immer wieder bittet Spyrantis die OP-Schwester, die Stärke des übertragenen Impulses zu bestimmen. Mit einem Faden, der ebenfalls im Katheterschlauch verläuft, muss die Oberärztin die Kapsel zweimal wieder zurückziehen, weil sie noch nicht richtig platziert ist. Während der gesamten Zeit des Eingriffs behält Niki Spyrantis immer zwei Bilder im Blick: die Live-Röntgenaufnahmen und das virtuelle 3-D-Modell. Es wäre natürlich sehr viel vorteilhafter für die Ärztin, wenn beides in einem Bild vereint wäre, sie also in dem dreidimensionalen Modell des Herzens die Position des Katheters und des Schrittmachers sehen könnte. Doch eine solche „Fusion“ ist derzeit noch nicht möglich. Man arbeite aber daran, heißt es vom Hersteller. Demnächst sollen die Aufnahmen aus verschiedenen Quellen in der AR der Brille fusionierbar sein.

Es gibt viele Einsatzmöglichkeiten für die neue Technik

Chefarzt Göing, der als Freund von neuen digitalen Möglichkeiten in der medizinischen Versorgung gilt, rechnet mit vielen Einsatzmöglichkeiten der neuen Technik. Eine weitere Behandlung, die sich mit der HoloLens besser durchführen lasse, sei zum Beispiel ein sogenannter Vorhofohrverschluss. „Das Vorhofohr ist eine anatomische Struktur an der linken Herzhälfte, in der sich bei bestimmten Patienten, beispielsweise mit einem Vorhofflimmern, Blutgerinnsel bilden können“, sagt Göing. Um zu vermeiden, dass diese in den Blutkreislauf gelangen, und dort zum Beispiel einen Schlaganfall verursachen, kann man diese Ausstülpung mit einem davorgesetzten Pfropf verschließen. Das Vorhofohr sei auf Röntgenaufnahmen schlecht zu erkennen und zudem sehr individuell ausgebildet. „Deshalb ist es auch so schwierig zu erkennen, ob der Pfropf korrekt gesetzt wurde. Da kann die Brille mit zusätzlichen Informationen helfen.“ Die Prozedur werde dadurch verkürzt und sicherer.

Und schließlich sei auch der Ersatz der Aortenklappe mit einem Katheter - die sogenannte TAVI – ein Eingriff, der mit der AR sicherer werde. Die Aorta beschreibt im Brustkorb einen Bogen, bevor sie an das Herz andockt, wo die Herzklappe sitzt. „Hier muss die neue Klappe sehr genau gesetzt werden, sie darf nicht zu hoch oder zu tief sitzen, denn man will ja nicht die Herzkranzgefäße beschädigen.“

Die Batterie hält bis zu vierzehn Jahren

„Bei all diesen Eingriffen gilt, dass die Komplikationsrate mit der AR-Brille sinkt, weil der Arzt sehr viel genauer erkennen kann, was er macht,“ sagt der Chefarzt. Von alledem hat Hedwig Kurz nichts mitbekommen, als die Operateurin nach 45 Minuten den Eingriff beendet. Ab jetzt bestimmt die Batterie des Herzschrittmachers dessen Lebenszeit. „Zwischen zehn und 14 Jahren beträgt die Laufzeit“, sagt Olaf Göing. Ist die Batterie leer, muss der Kapselschrittmacher ausgetauscht werden. Wahrscheinlich wird dann die Augmented Reality schon lange zum Alltag im OP gehören.

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