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Ereignisreiches Leben. Gerhard Grote in seiner Wohnung in Altglienicke unter dem Porträt seiner Tochter.

© Kai-Uwe Heinrich

Heute vor 80 Jahren überfiel Deutschland Polen: Wie ein Berliner sich an den Kriegsbeginn erinnert

Vor 80 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Gerhard Grote erlebte den Tag als Jugendlicher – und beschäftigt sich bis heute mit dessen Folgen.

Als am Morgen des 1. September 1939 in Danzig die Schüsse fielen, mit denen der Zweite Weltkrieg begann, war Gerhard Grote knapp 17 Jahre alt. Er lebte als Internatsschüler des renommierten Danziger Gymnasiums Conradinum in dessen „Alumnat“, dem Wohnheim, und hörte morgens um 4.30 Uhr den Donner der vom deutschen Schiff „Schleswig-Holstein“ gefeuerten Kanonen.

„Ich habe mich sofort angezogen, unten im Keller ein Rad geholt, und bin losgefahren – und je näher ich der Westerplatte kam, desto lauter wurde es. Man hörte auch das Geknatter von Maschinengewehren.“ Zurück im Alumnat, traf er im Speisesaal auf einen Lehrer und mehrere Mitschüler, die vor dem Radio Hitlers Rede hörten.

„Hitler sagte, er habe heute seine Soldaten angewiesen, den Polen die Grenzen zu zeigen, man würde sich deren Provokationen nicht länger gefallen lassen.“ Provokationen? Am Vortag gab es einen von den Nationalsozialisten fingierten, angeblich polnischen Angriff auf einen deutschen Sender in Gleiwitz, hinter dem die SS steckte. „Ständig brachten die Zeitungen Berichte über angebliche Gräueltaten, die Polen an Deutschen begingen.“

An der Wand hängt ein Foto der Danziger Marienkirche

Gerhard Grote, 96, trägt ein weißes Hemd mit feinen Streifen und geht so aufrecht, wie das in seinem hohen Alter möglich ist. Der Körper ist fragil geworden, die Bewegungen langsam, aber der Blick ist voller Kraft, die Begrüßung immer stilvoll. Schon mehrfach haben wir am runden Tisch in seinem Wohnzimmer gesessen und über den Krieg gesprochen.

Überfallkommando. Eine Szene aus der TV-Dokumentation «Polen 39», die heute auf Arte gezeigt wird.
Überfallkommando. Eine Szene aus der TV-Dokumentation «Polen 39», die heute auf Arte gezeigt wird.

© dpa

Seit 1991 wohnt der heute 96-jährige in diesem Hochhaus im Treptow-Köpenicker Ortsteil Altglienicke, bis 2012 mit seiner Frau Gretel, die damals im November starb. Hinten im Raum leuchten durch die offene Balkontür rot die Geranien, über dem Fernseher hängt eine Fotografie der gewaltigen Danziger Marienkirche, deren Ausmaße die Häuser ringsum ganz klein erscheinen lassen.

Kindheitsglück, das abrupt endete

Als Gerhard Grote im Oktober 1922 in Lauental geboren wurde, gehörte das neben dem Hafen liegende Dorf seit ein paar Jahren zum Stadtgebiet Danzig. Grotes Vater hatte voller Aufbruchsgeist noch vor dem Ersten Weltkrieg im äußersten Osten des Deutschen Reiches, dann in Danzig mehrere Betriebe aufzubauen versucht, die Mutter hatte einen Kolonialwarenladen eröffnet.

„Wir spielten Fußball, gingen zur Schule und am Wochenende an den Strand in Brösen.“ Kindheitsglück, das abrupt endete. Es war Ende 1932, und Grote erinnert es so genau wie eine scharf geschnittene Filmszene. „Lauental galt als Hochburg der Kommunisten, und als einmal sonntags eine Truppe uniformierter SA-Leute singend durch unsere Straßen zog, streckten ihnen einige Männer aus der Nachbarschaft die Faust entgegen und riefen: ‘Rot Front, Nazi verrecke!‘“ Grote, der mit anderen Kindern am Straßenrand stand und zuschaute, erlebte, wie das SA-Kommando Halt machte und mit Stöcken über die Männer herfiel, bis sie blutend liegenblieben.

„Hinter der Kolonne fuhr ein Polizeiwagen, aber die Polizei griff nicht ein.“ Hitler war noch nicht an der Macht, aber die rohe Gewalt der SA war schon kein Anlass mehr, die Bürger zu schützen. Gewalt war dabei, sich selbst zu legitimieren.

„Der süße Tod auf dem Feld der Ehre“

Wie ist ihm dieser Moment in Erinnerung? Hatte er Angst? Gerhard war losgelaufen, und hatte die Frau des am Boden liegenden Nachbarn zu Hilfe geholt. Aber sonst? Wie öfter, wenn etwas so Persönliches wie Gefühle berührt werden; wenn eine Frage zu groß ist, als dass etwas kurz beantwortet werden könnte, hebt der wortgewandte Gerhard Grote kurz die Hände, wortlos, und lässt sie wieder fallen.

Die wichtigsten Eckdaten des historischen Tages.
Die wichtigsten Eckdaten des historischen Tages.

© Thomas Perroteau / AFP

Das Reden über Persönliches, über Gefühle und Haltungen, ist nicht etwas, das in den Jahren seines Aufwachsens geübt oder positiv bewertet worden wäre. Auch im Gymnasium Conradinum, in das der gute Schüler im selben Jahr eingeschult wurde, waren Diskussionen über persönliche und politische Haltungen nicht an der Tagesordnung.

„Wir wurden zwar nicht direkt politisch beeinflusst“, meint Grote, nicht mit Nazi-Ideologie bearbeitet. Sehr wohl aber wurde der „süße Tod auf dem Feld der Ehre“ verherrlicht. Sehr wohl der Krieg als unabänderliches Mittel in bestimmten Konfliktsituationen vermittelt.

Krieg lag in der Luft

Bei unserer ersten Begegnung hatte ein kleiner Stapel mit vier schmalen Büchern auf dem runden Tisch gelegen: Allesamt von Grote in seinem neunten Lebensjahrzehnt verfasst. Im ersten Buch, einem Lebensrückblick unter dem Titel „Vier Gesellschaftsordnungen und zwei deutsche Wiedervereinigungen. Episoden meines Lebens“ schreibt Grote zum Thema Schule, das vollständige Fehlen einer Diskussionskultur, auch das Ausblenden der brennenden aktuellen Fragen habe sicher „mit dazu beigetragen, dass ich ebenso wie Millionen anderer junger Männer einige Jahre später völlig unkritisch als Soldat meine angebliche ‘patriotische Pflicht‘ erfüllte, ohne das verbrecherische Handeln unserer politischen und militärischen Führung zu erkennen.“

„Krieg lag in der Luft, es war klar, dass er kommen würde“, erinnert sich Grote im Gespräch an die aufgeheizte Stimmung jener Jahre vor 1939. Deutschland hatte den „Anschluss“ Österreichs vollzogen, war in der Tschechoslowakei einmarschiert. „Es schien klar, dass Polen das nächste Ziel wird.“

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Nach dem Abitur im März 1940 wurde Gerhard zum Reichsarbeitsdienst eingezogen – wie alle die, die älter als 16 und gesund waren. „Wir bauten Einfamilienhäuser für Wehrmachtsoffiziere und Arbeitsdienstführer.“

Grote hält die Handflächen nach oben: „Abladen von Ziegeln, Ausschachten von Baugruben, die meisten von uns Abiturienten waren diese körperlich schwere Arbeit nicht gewöhnt, erstmal gab das blutige Hände.“ Aber später, an der Ostfront, sei er froh gewesen um das „Training“. Noch konnten die 25 Pfennige täglich für Freizeitvergnügen Kino oder einen Strandbesuch eingesetzt werden.

Und sogar nachdem Anfang November 1940, eine Woche nach Gerhard Grotes 18. Geburtstag, der Einberufungsbefehl zur Wehrmacht auf dem Tisch lag, und er nach der Grundausbildung in ein kleines Fischerdorf in der Bretagne versetzt wurde: an den Atlantikwall, an dem die Küste vor Angriffen gesichert werden sollte, auch dann noch, bis ins Frühjahr 1941, blieb der Krieg für ihn unwirklich. „Im Rückblick kommt mir die Zeit vor dem Überfall auf die Sowjetunion vor wie die Ruhe vor dem Sturm“, sagt Grote nachdenklich.

Die schweigende Übereinkunft, Befehlen zu gehorchen

Was sich durchzieht durch die folgenden Kriegsjahre, ist die überall herrschende schweigende Übereinkunft, Befehlen zu gehorchen, nichts infrage zu stellen, ja, die eigenen inneren Fragen selbst zu verdrängen. Warum kämpften sie jetzt an der Grenze zur Sowjetunion, obwohl es doch einen Nichtangriffspakt gab?

Es kam der eisige Winter 41/42 an der Leningrader Front. Der Tod eines Kameraden, den er als Unteroffizier zum Wachdienst geschickt hatte. „Ich weinte und schrieb an seine Eltern“, sagt Grote leise. Das Gefühl der Mitschuld quälte. Von einem der schlimmsten Momente gibt es ein Foto, unmittelbar danach: Es war der 23. Februar 1943, als Unteroffizier und Geschützführer Grote seine Soldaten vor Angriffen an der Leningrader Front schützen sollte, als das Gelände fast eine Stunde mit „Stalinorgeln“ beschossen wurde: „Ein Trommelfeuer, wie ich es noch nie erlebt hatte.“

Grote holte alle in die Schutzhütte, wo sie sich auf den Boden legten. Und nur weil der sowjetische Kanonier eine Panzergranate auf die Hütte geschossen hatte statt einer Sprenggranate, überlebten sie. Krumm, wie in der Mitte eingeknickt, steht Grote da.

Immer wieder Glück gehabt

Immer wieder Glück gehabt. Auch dies Thema zieht sich durch; ebenso wie das Tabuisieren, das Schweigen. Noch als das Attentat auf Hitler am 20. Juli 44 missglückte, wurde nicht einmal unter Offizieren, der Grote inzwischen war, offen gesprochen. „Viele dachten wie ich, dass ein gelungenes Attentat die Chancen auf ein baldiges Kriegsende erhöhte. Aber niemand wagte, offen darüber zu sprechen.“

Und doch, kurz vor Kriegsende, nun zurück in Deutschland, als die Amerikaner schon nah waren, verweigerte auch Gerhard Grote irgendwann den Befehlsgehorsam. „Und ich hatte wieder Glück. Hätte mich die SS dabei entdeckt, wäre ich – wie andere, denen das passierte – erschossen worden, mit einem Schild um den Hals, ‘Ich war zu feige, für meinen Führer zu kämpfen.‘“

Glück auch in der Gefangenschaft, wo er zu Dolmetscherdiensten herangezogen wurde. „Und auch das Denken begann erste in der Gefangenschaft. Die politische Bildung fing da erst an“, sagt Grote. Und sie hörte nie mehr auf. In Erfurt – wo seine spätere Frau Gretel herkam – fasste Grote beruflich Fuß als Betriebsprüfer für Steuern, ab 1950 dann in Ost-Berlin als Revisionsleiter und Direktor im staatlichen Kohlenhandel, Mitarbeiter im Ministerium für Außenhandel, Professor für Außenwirtschaft.

Ein dem Beruf und der vierköpfigen Familie gewidmetes Leben, dem aber ein letztes Kapitel wohl noch fehlte. Als 2012 Gretel, und 2013 Sohn Axel starben, ging Grote, 91 Jahre alt, noch einmal über die Bücher. „Eine Freundin riet mir, mein Leben aufzuschreiben – und damit kehrte der Lebensmut noch einmal zurück.“

Auf zwei biografische Bücher folgten solche, in denen er die politischen Ordnungen und Unordnungen der Welt durchdenkt. „Wir brauchen eine Solidarische Weltordnung. Die reale Utopie eines demokratischen Sozialismus“, heißt sein fünftes Buch, das in diesen Tagen erscheint. Immer wieder erwähnt Grote ein Gespräch mit 16-jährigen Schülern im Sommer, bei dem ihn deren Fragen berührt hatten. „Schließt Euch Bewegungen an, die den Frieden unterstützen, nicht den Krieg, habe ich ihnen gesagt. Wir brauchen keine deutschen Soldaten irgendwo in der Welt.“

In jedem Gespräch mit Gerhard Grote stehen die großen Fragen des Lebens daneben. Schuld? Mitschuld? Sinn? Immer wieder neu nachdenken. Immer wieder neu über die Bücher gehen, ist seine Antwort. Gerhard Grote hebt die Hände, die Schultern, und lässt sie wieder sinken. Ein Sekundenlächeln. Da waren viele Härten in seinem Leben, bis in die letzten Jahre hinein, keine Frage. Aber– „Ich hatte so ein ereignisreiches Leben!“ Und hat er nicht Glück gehabt, immer wieder?

Bernadette Conrad

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