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Berlin: Herta Melzig (Geb. 1923)

Das ist Blau und das da vorne Rot, und diese Farbe nennt man Gelb

Von Julia Prosinger

Sie war da, immer. 72 Jahre lang. Wie selbstverständlich. Zu selbstverständlich vielleicht, um Fragen zu stellen.

Tante Herta, so nannten die Guyots ihre Angestellte Herta Melzig. So nannten sie auch die Nachbarn und die Kunden der Gärtnerei in Kladow.

Wie ist sie eigentlich in diese Familie gekommen? 1940 war es, sie war 17 und Schnittermädchen, Erntehelferin könnte man auch sagen. Sie kam aus dem schlesischen Schweidnitz. Mit dem Bus? Mit einem Koffer? Hat sie geweint, als sie ihre Mutter und Geschwister zum Abschied umarmte? Man weiß es nicht.

Man weiß nur, dass sie da war. Ein robustes, blondes Mädchen, der die gute Laune nie verging. Morgens um sechs stand sie auf. Fütterte die Pferde und Schweine, melkte die Kühe. Sie mochte Tiere. Sie tröstete andere Erntehelfer. Brauchte sie niemals Trost?

Das war in Berlin Buchholz, das heute Französisch Buchholz heißt. Sie putzte den Guyots die Schuhe. Sie weichte ihre Wäsche ein. Sie bekam Kost und Logis. Herta Melzig wurde mit den Guyots groß.

Die vergaßen fast, dass auch sie mal eine Kindheit hatte: sechs Geschwister, Schelte, Dresche, Armut, Kartoffeln statt Fleisch. Ob sie deshalb kaum Kontakt nach Hause hatte? Oder hatte sie einfach entschieden, dass die Guyots nun ihre Familie waren? Das zumindest sagte sie.

Was sie vom Leben wusste, brachten ihr ihre Arbeitgeber bei. Die Gummistiefel beispielsweise stellt man nicht in die Stube, und die Socken wechselt man, so oft es geht.

Als die DDR die LPG einführte, flohen die Guyots in den Westen bis nach Kladow. Sie bekamen zwei Hektar Land, sonst fehlte alles. Sie bauten jetzt Gemüse und Pflanzen an. Herta Melzig war gern mitgekommen. Sie mochte die DDR nicht.

Tag und Nacht arbeiteten die Guyots, Tante Herta mit. Sie krochen auf den taunassen Feldern umher, zogen Radieschen und schnitten Dill mit dem Messer. Die aufgeschürften Knie waren voller Wasser, die Handgelenke geschwollen, an Herta Melzigs arbeitsdicke Finger passte nie ein Ring.

Musste auch nicht sein: Soweit man weiß, ist sie nie mit einem Mann ausgegangen. Hat sie sich keinen gewünscht? „Die, die aus dem Krieg wiederkehren, haben doch alle einen Knacks“, sagte sie. Mehr weiß man nicht. Tante Herta war alleinstehend, ganz selbstverständlich.

Beim Arbeiten auf dem Feld sangen sie gern zusammen. „Die Fahne hoch“ war so ein Lied; die Chefin sang es mit kommunistischem, die Angestellte mit nationalsozialistischem Text. Danach saßen sie in der Scheune und banden Petersilie zu Sträußen. Ein Arbeitstag hatte 14 Stunden.

Tante Herta hatte keinen Mann, aber sie hatte Kinder. Die Kinder der Guyots. „Meine Kinder“, sagte sie immer, 72 Jahre lang. So wie die Kinder sie auch „Tante“ nannten. Erst kümmerte sie sich um den Sohn des Chefs, der dann ihr Arbeitgeber wurde. Dann um seine Tochter und seinen Sohn und schließlich um die vier Enkel. Fünf Generationen Guyots erlebte sie in diesen 72 Jahren.

Man musste ihr nicht sagen, was zu tun war, sie tat es einfach. Sie war ja immer da.

Sie wechselte Windeln, auf dem Feld, wo der Kinderwagen neben den Radieschen stand. Morgens hängte sie einen Beutel an ihre Tür mit Süßigkeiten und Gurken. Die Kinder holten ihn sich ab für die Schule. Mittags saß sie am Sandkasten und schubste die Schaukel an. Oder sie zeigte in der Gärtnerei auf die Blumen: Das ist Blau und das da vorne Rot, und diese Farbe nennt man Gelb. Abends kochte sie Frühlingssuppe und Möhrchen mit Schoten. Nachts wachte sie an den Betten der Kinder.

Für sich selbst tat sie wenig. Ihre Wäsche brachte sie den Guyots. Die stöhnten, wenn es ihnen zu viel wurde. Dann wechselte sie die Wäsche eben seltener.

1975 ließen die Guyots das Gemüse sein und waren fortan nur noch Gärtnerei. Tante Herta entfernte nun die Seitentriebe der Nelken, schnitt Chrysanthemen auf dem Feld, setzte Tulpenzwiebeln in die Erde.

Die Guyots beschlossen, ihr ein Haus zu bauen und schrieben Tante Herta ein Wohnrecht auf Lebenszeit in ihr Testament. Mit eigenen Händen errichteten sie, wann immer sie konnten, nach der Arbeit, am Wochenende, ein winziges Backsteingebäude. Es steht zwischen Gärtnerei und Wohnhaus. Wenn die Guyots aus dem Fenster blickten, sahen sie Tante Herta an ihrem Küchentisch neben dem Radio sitzen, es lief Volksmusik. Sie bekam jetzt auch eine eigene Waschmaschine.

Tante Herta arbeitete, bis sie 70 war. Krank war sie nie. Sie lief über den Hof und redete mit den Kunden. Sie saß in der ersten Reihe, als die Guyots versuchten, die schwächelnde Gärtnerei mit Comedy-Veranstaltungen zu retten. „Tante Herta“ stand auf ihrem Stuhl, und der Moderator begrüßte sie persönlich. Bis zuletzt gab sie dem jüngsten der Guyot-Kinder Eis und Süßigkeiten.

In den letzten Jahren hingen wieder Beutel an Tante Hertas Tür. Eins ihrer Kinder versorgte sie mit Schrippen und, als ihre Zähne nichts mehr kauen konnten, mit Rosinenbrötchen.

Herta Melzig wünschte sich einen Platz im Familiengrab der Guyots. Das war schon voll. Nun liegt sie zwei Gräber weiter. Herta, steht in ihrer eigenen Schrift, in Sütterlin, auf dem Stein. Ohne Tante und auch ohne Nachname. Julia Prosinger

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