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Berlin: Helmut Pahlke (Geb. 1949)

An erster Stelle aber steht die Arbeit

Nie wollte er Rentner werden. Was hätte er tun sollen, so ganz ohne Arbeit?

Als Sohn einer Schneiderin und eines Süßwarenfabrikanten verbringt Helmut seine ersten Jahre in einer Villa in Heiligensee, versorgt von einem Kindermädchen, aber nicht wohl behütet. Die Mutter verhängt drakonische Strafen, der Vater gibt ihm zu verstehen, dass er nicht viel wert sei. Als die Schokoladenfabrik pleitegeht, zieht die Familie in eine Mietwohnung in Moabit. Nach der Scheidung der Eltern gerät Helmut in eine tiefe Krise. Er begibt sich, ganz von selbst, in ein Heim für schwer Erziehbare.

Er ist begabt, er zeichnet und näht. Aber er bricht seine Lehre als Schaufensterdekorateur ab. „Das ist was für Schwule“, findet der Vater, den auch der Abbruch der Lehre und die Tatsache, dass der Sohn boxen geht, nicht beeindrucken. Sinnbild für die Beziehung zum Vater wird dieses Erlebnis: Der Vater liegt im Sterben, Helmut eilt ins Krankenhaus. Als er unten im Foyer eintrifft, stirbt der Vater oben in seinem Bett.

In der Krankenpflegeschule lernt Helmut seine künftige Frau Brigitte kennen. Ihr erstes Kind bekommen sie noch während der Ausbildung, vier weitere folgen. An der Erziehung beteiligt er sich wenig. Er übernimmt die praktischen Aufgaben, baut jedem Kind ein Hochbett, repariert Waschmaschine und Auto, kutschiert die Kinderschar mitsamt Hund im Steyr- Puch umher, einem sehr kleinen Kleinwagen. An erster Stelle aber steht die Arbeit.

Viele Jahre lang arbeitet er als Krankenpfleger im „Steri“ des Krankenhauses Moabit; so nennen sie dort die Sterilisationsabteilung, wo die Gerätschaften der Chirurgen gereinigt und von Keimen befreit werden. Als Leiter der Abteilung ist er kaum noch zu Hause, was seiner Ehe schlecht bekommt. An Weihnachten gibt er seinen Mitarbeitern frei und übernimmt selbst Doppelschichten, denn Feiertage sind ihm ein Graus. Möglich, dass er bei der Arbeit mehr Anerkennung bekommt als zu Hause, vielleicht fühlt er sich im Krankenhaus auch schlicht sicherer, weil zwischen ihm und den anderen Menschen die Geräte stehen. 1995 lassen sich Brigitte und Helmut scheiden, besiegeln es mit dem Verzehr einer Martinsgans und gehen fortan freundschaftlich miteinander um.

Nun widmet er sich erst recht der Arbeit. Mit dem Arzt und Ingenieur Thomas Fengler gründet er eine Firma. Sie tüfteln an der Frage, wie die neuen, stielförmigen minimalinvasiven Instrumente gereinigt werden können, verhandeln mit Herstellern über die Zerlegbarkeit der Instrumente und die Anpassung von Reinigungsgeräten. Helmut übernachtet im Labor, wenn ein Test es erfordert, oder tunkt seinen Arm in eine Desinfektionslösung, um die Wirkung zu protokollieren. Bald bekommen sie Aufträge aus ganz Deutschland und werden als Experten befragt, wenn es mal wieder einen Hygieneskandal in einem deutschen Krankenhaus gibt.

Kollege Thomas wird sein bester Freund. Und endlich wird auch Freizeit ein Begriff. Gemeinsam gehen sie zu Rockkonzerten und verlängern Dienstreisen, um andere Städte kennenzulernen. Obwohl er dann nicht arbeitet, geht es ihm gut.

In den letzten Jahren findet er auch zur Familie zurück. Er genießt es, Zeit mit seinen drei Enkelkindern zu verbringen, die er zärtlich seine „drei Ekel“ nennt. Auf Reisen mit seinen erwachsenen Kindern hat er anfangs noch seinen Laptop dabei und wird nervös, wenn das Handy keinen Empfang hat. Doch das gibt sich; er lernt, sich zu entspannen. Sie reisen ans Nordkap und nach Ungarn und planen eine Reise nach Island im gemeinsam ausgebauten Lkw.

Vielleicht könnte ihm das Rentnerdasein ja doch gefallen. Aber es bleibt keine Zeit. Der Krebs wird zu spät entdeckt. Wenigstens bis zur Island-Reise will er noch durchhalten. Er schafft es nicht. Candida Splett

Candida Splett

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