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Berlin: Helga Schneider (Geb. 1927)

Ob sie auch einfach mal faul auf ihrem Sofa rumgelegen hat?

Eins ihrer größeren Probleme, im hohen Alter: Mit wem soll ich denn jetzt noch Ski fahren? Eine Freundin, 27 Jahre jünger als sie, schenkt ihr zum 80. Geburtstag einen gemeinsamen Ski-Urlaub. Auch wenn Helga Schneider gerade entschieden hat, dass ihr 25 Deutsche Sportabzeichen genug sind und sie nicht mehr zu Wettkämpfen antreten wird.

Bei ihr läuft das mit dem Altern irgendwie anders als bei anderen. Die Neugier, die Energie und die Gesundheit – sie kann sich die Gaben der Jugend bis zum Schluss erhalten. Auf Fotos der letzten 30 Jahre kann man lediglich an der Kleidung ihrer Freundinnen ablesen, dass die Zeit vergeht. Mal sind da große Schulterpolster, dann wieder wild gemusterte Pullover und dann auch mal ein Neunzigerjahre-Fransenschnitt. Was gleich bleibt, ist Helga: kurze graue Haare, ein beinah überrascht wirkendes Lachen, fast immer jemandem zugewandt, aufmerksam im Gespräch. Helga strahlend vor einer Cessna, mit 70 Jahren, kurz vor ihrer Flugscheinprüfung. Helga lachend und kletternd zwischen zwei großen Felsen in der Sächsischen Schweiz. Ob Helga auch einfach mal nur faul auf ihrem Sofa rumgelegen hat?

Als Helga mit 65 Jahren pensioniert wird, zieht sie sich nicht in den Ruhestand zurück, sondern stürzt sich in eine neue Ausbildung. Sie wird jetzt Heilpraktikerin. Ihre Lehrerin könnte ihre Tochter sein, ihre Mitschüler ihre Enkel. Doch Helga gibt nicht die altersweise Dame. Sie kichert und scherzt im Unterricht, ist vor den Prüfungen aufgeregt und bewundert die Jüngeren für ihren Wissensvorsprung.

Vorher hatte Helga es sich zum Beruf gemacht, die Disziplin und Effizienz, mit der sie ihr eigenes Leben organisierte, Firmen zu vermitteln. Für die REFA, den ältesten deutschen Verband für Arbeitsgestaltung und Betriebsorganisation, reiste Helga durch Deutschland und beriet Unternehmen. Als Dozentin an der Berliner Universität der Künste erklärte sie zudem jungen Designstudenten, dass die schönste Kaffeetasse der Welt nur so lange auch die beste Kaffeetasse der Welt ist, wie der Henkel nicht an der Innenseite befestigt ist.

Ausgerechnet diese Pragmatikerin macht nun eine Ausbildung zur Heilpraktikerin und wird außerdem noch Reiki- Meisterin. Glaubt folglich an universale Lebensenergien und an Heilung durch Handauflegen. Helgas Zugang zur alternativen Medizin lag in ihrem unerschütterlichen Optimismus. „Ärgere Dich nicht, gerade heute.“ Schon lange bevor Helga dieser Satz als zentrale Lehre des Reiki begegnete, hatte sie ihr Leben danach ausgerichtet.

Nach 14 Jahren Ehe verlässt sie ihr Mann. Sie bleibt allein mit den zwei Söhnen. Doch statt den Kontakt abzubrechen, gelingt es ihr, zu akzeptieren, dass das Glück ihres Ex-Mannes nun woanders stattfindet. Unter den ungläubigen Blicken ihrer Bekannten geht sie Woche für Woche mit ihm und seiner neuen Frau frühstücken. Die drei überführen eine enttäuschte Liebe in eine Freundschaft.

Freunde sind für Helga nicht einfach die Menschen, mit denen man regelmäßig Ausflüge und Grillabende veranstaltet. Freunde sind für sie Sinnstifter und Wahlfamilie.

Selbst als Helga mit Schmerzen im Brustkorb ins Krankenhaus eingeliefert wird, bleibt sie für ihre Freunde das Zentrum des sozialen Lebens, verschiebt vom Krankenbett aus Verabredungen für Vorträge und Ausstellungen. Einen Tag vor ihrem Tod bespricht sie mit ihrer engen Freundin Michaela am Telefon noch dies: „Du, ich ruf dich aus dem Krankenhaus an. Ich hatte letzten Donnerstag möglicherweise einen kleinen Herzinfarkt, nichts Schlimmes.“ So jung wie Helga klingt, so wach und anpackend, liegt der Gedanke an etwas Schlimmes ohnehin fern. „Alles ist prima“, sagt sie und lacht. „Lass uns lieber morgen noch mal kurz sprechen, ich hab das Ladekabel für mein Handy nicht dabei.“

Michaela willigt ein, verabschiedet sich. Ihre Stimme ist ruhig und ohne Sorge. Wer denkt in so einem Augenblick denn an den Tod?

Als Michaela kurz darauf bei Helgas Begräbnis die Abschiedsrede hält, hat sie für die versammelten Verwandten und Freunde noch eine Überraschung parat: „Der Höhepunkt von Helgas Lust auf Neues war wohl der Fallschirmsprung vor ein paar Jahren, den sie ein bisschen geheim gehalten hat, weil sie befürchtete, dass man sie für verrückt erklärt hätte. Nadia Pantel

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