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Berlin: Heinz Vangerow (Geb. 1923)

Beide hatten ihre Erfahrungen mit der Ehe, und es waren keine guten

Kurz nach der Hochzeit ließ er eine Fotokarte drucken und schickte sie an die überraschten Freunde und Bekannten. Darauf strahlen er und seine Mathilde vor der Klinkerwand des Standesamts stolz in die Kamera, darüber der Satz: „Wir mußten heiraten!“ Als sich die ersten Anrufer kichernd erkundigten, wann das Kleine denn nun zur Welt käme, freuten sich die beiden über den gelungenen Scherz. Natürlich mussten sie gar nichts, nicht in ihrem Alter. Heinz war gerade 70 geworden, Mathilde 60. Beide hatten ihre Erfahrungen mit der Ehe, und es waren keine guten.

Heinz war in einem Dorf in Vorpommern aufgewachsen, wo seine Eltern einen großen Bauernhof bewirtschafteten. Schon früh war ihm klar, dass er weder Interesse noch Talent für die Landwirtschaft hatte. Etwas Kaufmännisches, eine Arbeit im Anzug, im Büro, das war sein Traum. Aber eine Diskussion wäre sinnlos gewesen. Er musste seine Eltern anders überzeugen. Für die zehn Mark, die er auf dem Sparbuch hatte, lieh er sich im Laden eine Schreibmaschine. Wenn er gerade keine Ziegenherde zu beaufsichtigen hatte, sah man Heinz jetzt Tag für Tag konzentriert tippen.

Doch dann kam der Krieg, und er war 18. Er meldete sich freiwillig zur 1. Fallschirmjäger-Division – nicht, weil er sich für einen Helden hielt, sondern weil sich so ein Einsatz in Russland vermeiden ließ. Ein Unterschenkel ist ihm weggeschossen worden, und er machte niemanden dafür verantwortlich außer sich selbst. Es gab nichts darüber zu reden, es reichte, wenn er sich jedes Jahr an Silvester gegen Mitternacht im Bett ein Kissen über den Kopf ziehen musste. Die Böller und Raketen weckten die Erinnerung: monatelang eingekesselt und beschossen bei der Schlacht um das Kloster Montecassino.

Mathilde lernte er in Berlin kennen, da war er Ende 50. Sie gingen ein paar Mal aus, und Mathilde war gespannt, wie dieser charmante Mann auf seiner Insel in der Nordsee lebt. Er war Betriebsleiter eines Internats auf Langeoog, wohin er aus einem erkalteten Familienleben geflohen war, sobald er seine vier Kinder aus dem Gröbsten heraus wusste. Mathilde wollte nur ein paar Tage bleiben, aber dann stürzte sie mit dem Fahrrad. Mit dem Gips an der Hand konnte sie weder Auto fahren noch zur Arbeit, und Heinz überzeugte sie zu bleiben. Die folgenden drei Wochen stellten ihr Männerbild gründlich auf den Kopf. Heinz erschien ihr nachgerade weise: seine gelassene Art, die höfliche Zugewandtheit und der trockene Witz. Sie: „Du bist mein Engländer.“ Er: „Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe.“

Die hübsche Frau mit dem VW Scirocco lebte ein selbstbestimmtes Leben. Sie verdiente ihr eigenes Geld, war sehr gesellig, lachte und flirtete gerne. Wenn ihr ein Mann zu mutig wurde, biss sie ihn weg. Sie hatte eine Ehe mit einem Choleriker hinter sich, der den Alkohol mehr liebte als sie. Mit Heinz war alles anders.

Nach der Pensionierung zog er nach Berlin, gemeinsam bezogen sie eine Wohnung in Tegel. Alles war gut – nur seine Beinprothese machte ihm mehr zu schaffen, als es nötig war. Als er zum ersten Mal das Wort Krüppel benutzte, trieb sie ihm das sofort aus.

Mathilde liebte die Insel Ischia im Golf von Neapel mit ihren Thermalbädern. Am Beckenrand musste Heinz ihr beichten, dass er nicht schwimmen konnte. Wieder zu Hause saß er jetzt manchmal mit nassen Haaren am Mittagstisch. Vormittags besuchte er heimlich einen Schwimmkurs in Lichterfelde.

„So lange kann sich kein Mensch verstellen“, dachte sich Mathilde nach zehn gemeinsamen Jahren, „jetzt kann ich ihn eigentlich heiraten.“ Auf die Schleife an seinem Sarg lässt sie schreiben: „Ich bin so froh, dass ich Dich gefunden habe.“ Sebastian Rattunde

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