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Berlin: Heinz Schieferdecker (Geb. 1918)

Sechs Mark für eine Sechs, eine Mark für einen Eins

In seinem „Zündapp Janus“ guckten Heinz Schieferdecker und seine Frau nach vorn, Rücken an Rücken mit den Töchtern, die nach hinten blickten. Der „Janus“ war ein zweitüriges, winziges Automobil, das aussah, als sei es aus zwei Heckteilen eines Kleinwagens zusammengesetzt. Zwischen den Sitzbänken war Platz für einen schmalen Koffer. Darin befand sich das komplette Urlaubsgepäck der Familie für den Italien-Urlaub.

Einen Mercedes zu fahren wie viele seiner Kunden, wäre ihm nie eingefallen. Das größte Auto, das er je besessen hat, war ein Fiat Tipo. Dagegen wirkte der Passat der Nachbarn wie eine Stretchlimousine. Ein sparsamer Steuerberater? So einfach liegt der Fall Heinz Schieferdecker nicht. Seiner Tochter versprach er für eine Sechs in der Schule sechs Mark und für eine Eins eine Mark. Er war selbst kein guter Schüler gewesen, er wusste, dass Leistungsdruck nicht automatisch Bestnoten erzeugt. Er selbst arbeitete, bis er 85 war. Das war einerseits Folge seiner universalen Gelassenheit, anderseits sein Lebensglück: Er arbeitete für sein Leben gern.

Seine Rechenkünste standen den übrigen Talenten in nichts nach. Auf der einen Seite herrschte die Ordnung der Zahlen, auf der anderen das komplexe System zwischenmenschlicher Gefühle und sozialer Verhältnisse. Seine Kunden schätzten seine charmante, gewitzte wie auch bodenständige Art. Er versuchte nie, den Eindruck zu vermitteln, bei Buchführung und Steuerrecht handele es sich um große Dinge, und widmete sich ihnen dennoch mit der notwendigen Akribie. Insbesondere seine hellsichtigen Lebensratschläge wurden wertgeschätzt. Manchen Überflieger befreite er von allzu schillernden Seifenblasenträumen. Auf seine Enkelin, die angespannt vor dem Examen stand, wirkte er derart beruhigend, dass sie sich noch heute verwundert daran erinnert: „Meine Freunde haben mich auch aufgemuntert. Aber bei ihm fühlte sich das anders an.“

Als mittleres von drei Kindern eines Charlottenburger Steuerberaters hatte er eine jüdische Privatschule besucht. Viele seiner Freunde waren Juden. Wenn der Vater einen Extragroschen fürs Wochenende spendierte, ging er mit ihnen ins Delphi, „Kalte Ente“ trinken und zu Jazz und Swing tanzen. Kamen die Nazis herein, stellte die Kapelle flugs auf Walzer um. Die meisten von Heinz’ jüdischen Freunden flohen rechtzeitig aus dem Land, er musste zur Wehrmacht, nach Afrika zu Rommels Wüstenarmee. Das war kein Orient-Abenteuer, das war Krieg. Die Bilder ließen ihn nie los.

Jemandem die Steuererklärung zu frisieren, wäre ihm nie eingefallen. Im Gegenteil, er betonte stets, dass er Steuern für etwas Notwendiges und Gutes halte. Je mehr jemand verdiene, desto mehr müsse er dem Gemeinwohl auch zurückgeben. Als eine gute Kundin vorschlug, ihren neu gebauten Swimmingpool als Waschraum für Angestellte abzusetzen, lehnte er das selbstverständlich ab. Seine Kunden waren sowohl berlinernde Kneipiers als auch promovierte Apotheker. Viele Geschäftsbeziehungen gingen direkt in Freundschaften über.

Das große Geld war ihm nicht wichtig, die Freude an der Arbeit umso mehr. Seine Frau hielt ihm den Rücken frei. Sie organisierte den Haushalt und schmiss das Büro. Beides befand sich eh unter einem Dach. Als er 40 war, begann er, Tennis zu spielen, und durchquerte in kurzer Zeit die Rangliste des Clubs. 1988, in einer Zeit, in der das noch kaum jemand tat, legte er sich einen Computer zu – im zarten Alter von 70 Jahren. Sein Arbeitsraum glich einem überdimensionalen Aktenschrank, in den ein fremdes Raumschiff gerast war. Kabelstränge über gemasertem Holz unter vielerlei Kunststoffgehäusen.

Als er mit 80 Jahren beim Tennisspielen einen leichten Schlaganfall erlitt, gab er den Sport auf. Fünf Jahre später konnte er kaum noch gehen. Nach langem Abwägen beschlossen die Ärzte, ihm einen Herzschrittmacher einzusetzen. Kaum aus der Narkose erwacht, hüpfte der Rekonvaleszent aus dem Krankenbett und suchte nach seinen Jeanshosen. Immer wieder befürchtete die Familie sein plötzliches Ableben – mit dem seiner zehn Jahre jüngeren Frau rechnete niemand. Ein Schock!

Auf eigenen Wunsch zog er in eine Altersresidenz. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen, zu ihm kamen die Leute gern. Ein Thema beschäftigte ihn sehr: Was, wenn der Körper dem Kopf nicht mehr folgen kann? Wieso darf man den Zeitpunkt seines Endes nicht selbst bestimmen? Er hatte Glück. Zufrieden und entspannt eingeschlafen saß er eines Nachmittags im Sessel, als ihn seine Zimmernachbarin fand. Sie wollte sich gerade ein Kompliment für ihre neue Frisur abholen.

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