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Alle Jahre wieder. Sabine Becker, Wirtin der „Holland Mühle“ in Steglitz, lässt ihren Stammgast Klaus auch Weihnachten nicht im Stich. Das macht sich auch am Umsatz bemerkbar.

© Thilo Rückeis

Heiligabend in Berliner Kneipen: Tresen statt Tanne, Bier statt Braten

Heiligabend werden Kneipen zum Zufluchtsort vor Einsamkeit und Weihnachtsstress. Aber viele bleiben in Berlin einfach zu.

In den Fenstern kleben Weihnachtsmänner und Rentiere, drinnen hängen Tannengirlanden aus Plastik. Leere Zigarettenschachteln, in Alufolie verpackt, dienen als Dekoration. Dazu ein kleiner Tannenbaum, ein paar Adventskalender und Lichterketten, die mit den Spielautomaten um die Wette blinken. Eine Mischung aus Weihnachtskitsch und Wohnzimmeridylle. Es weihnachtet sehr in der Holland Mühle, dieser Kneipe am Steglitzer Damm. „Seit 35 Jahren wird das alles hier immer wieder ausgepackt und aufgehängt“, erzählt Wirtin Sabine Becker. Die Weihnachtsfeier in der Holland Mühle ist so alt wie die urige Schankstube selbst.

Sabine Becker gehört seit 25 Jahren dazu, arbeitet fast jeden Tag am Tresen, wo bereits am frühen Morgen das erste Bier ausgeschenkt wird. Die Holland Mühle ist eine Kiezkneipe, mal Großfamilie, mal sozialer Brennpunkt. Und sie sei die Mutti für alle, erzählt Becker. Stammgäste werden mit Küsschen begrüßt, alle duzen sich, jeder kennt jeden. „Viele kommen hierher, weil sie nicht alleine sein wollen und Gesellschaft suchen“, sagt die 57-Jährige, „oder weil ihnen einfach langweilig ist.“ Immer wieder die gleichen Gäste, immer wieder die gleichen Abläufe. Die Kneipenwirtin lacht. Auch Heiligabend.

„Hier sitzen immer zwei Pärchen, so um die 50 Jahre alt, und machen ihre Bescherung“, erläutert die Kneipenwirtin und zeigt auf einen Tisch in der Ecke, „und da ist abends der Stammtisch. Mittdreißiger. Die kommen bestimmt schon seit zehn Jahren.“ Generell gebe es für den 24. Dezember viele Reservierungen, der Tag sei der umsatzstärkste im ganzen Jahr. Morgens kommt die Stammkundschaft, mittags ist die Zeit der „armen Seelen“ und abends steige die Party, inklusive Musik und Tanzstimmung. Alle Jahre wieder.

Hin und wieder wird man fündig

Becker übernimmt die Nachmittagsschicht, kümmert sich um jene, die „gerade an diesem Tag nicht allein sein wollen“. Sie selbst ist es gewohnt, Weihnachten hier zu sein. Heiligabend hat sie schon lange nicht mehr zu Hause verbracht. Dort wartet eh keiner auf sie, erzählt sie. Außerdem sei es doch hier ihr Job, sich um ihre Gäste zu kümmern. „Ich muss gucken, dass die Leute den Tag gut überstehen und bestenfalls glücklich nach Hause gehen.“ Weihnachten ist die Holland Mühle mehr als sonst Familienersatz, Treffpunkt einsamer Herzen und auch solcher, die keine Lust auf Verwandtschaft haben. Bier am Tresen statt Braten unterm Tannenbaum.

Viele Berliner Kneipen und Bars sind an Heiligabend in Berlin geschlossen. Kleine Umfrage in Mitte, zwischen Rosenthaler Platz und Alexanderplatz. Habt ihr am 24. geöffnet? Immer wieder Kopfschütteln. „Heiligabend? Nee, da haben wir zu.“ Die Suche nach einer gemütlichen Kneipe fürs Fest scheint besonders in szenigen Kiezen so schwierig wie die Suche Marias und Josephs nach einer Herberge vor mehr als 2000 Jahren. In vielen Kiezen wirkt die Hauptstadt wie leergefegt, die Kneipen passen sich der Nachfrage an. Und doch wird man hin und wieder fündig.

Etwa in Kreuzberg 36, Oranienstraße. In der Taqueria Florian werden die Fenster erleuchtet sein. Das ist nicht in jedem Jahr so, aber immer dann, wenn jemand aus der Belegschaft sich freiwillig meldet. Hat einer Lust, den Laden zu schmeißen, wird die Kneipe geöffnet. Wenn nicht, bleibt sie eben zu.

Weihnachtlich dekoriert wird nicht

Sandra Elsner hat Lust. Bereits zum zweiten Mal wird die Schauspielstudentin, die neben der Uni in der Kneipe jobbt, die Weihnachtsschicht übernehmen. „Ich sehe das an diesem Abend nicht so richtig als Arbeit“, erzählt die 27-Jährige, die ihre Familie im Rheinland erst nach den Feiertagen besuchen wird.

Das Publikum der Taqueria ist bunt gemischt, erzählt Sandra Elsner. Vom türkischen Opa bis zum Hipster und vom Arzt bis zum Hartz-IV-Empfänger sei alles dabei. Und auch an Weihnachten sei das nicht anders. „Klar fangen Kneipen immer auch einsame Seelen auf. Aber während der Feiertage nimmt man es eben besonders deutlich wahr.“

Neben denen, die sich einsam fühlen, mit Weihnachten nichts anfangen können und dem einen oder anderen Stammgast wird Sandra Elsner auch Touristen bedienen, die all ihre Erwartungen in einen spektakulären „Berlin Christmas Eve“ setzen und dann feststellen, dass an diesem Abend kaum etwas los ist. Es sei einfach ein „entspanntes Ding“, sagt die junge Barkraft, „ein gemütliches Beisammensein“.

Weihnachtlich dekoriert wird die Kreuzberger Kneipe nicht. Alles bleibt, wie es ist: Rote Kerzenständer, rund ein Dutzend kleiner brauner Tische. „Der ganze Kitsch, da stelle ich mich dagegen“, sagt Sandra Elsner. Allein durch das „Frohe Weihnachten“, das sich jeder wünscht, liege doch schon etwas Festliches in der Luft.

Im letzten Jahr, so erinnert sich Sandra Elsner, hat sich die Kneipenweihnacht lange hingezogen. Bis in die späte Nacht habe man zusammengesessen. Ein paar Bezirke weiter endete die Party in der Holland Mühle sogar erst am frühen Morgen. Keiner wollte so recht nach Hause.

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